Der alte Mann und die Milchkanne
Paavo war traurig. Vorige Woche hatte er seinen 90. Geburtstag gefeiert, zusammen mit der Nachbarin, der 88- jährigen Taru. Seine Ehefrau war vor über 20 Jahren an Krebs gestorben, die einzige Tochter Helga war mit 39 Jahren ebenfalls an Krebs gestorben: „Dieser verdammte Krebs, mir wäre lieber gewesen, er hätte statt Helga mich erwischt“, dachte sich Paavo. Er lebte alleine in Kajaani, in einem kleinen Holzhaus, nur die alte Taru besuchte ihn gelegentlich, sie erzählte ihm immer wieder dieselben Geschichten und Paavo erzählte Taru auch immer wieder dieselben Geschichten.
Draußen ging die Sonne bereits um 15 Uhr unter, die Taiga schimmerte. Man konnte kilometerweit in den Wald hineinsehen. Es gab heißen Tee und Vanilleplätzchen bei Paavo.
Paavos Lieblingsgeschichte handelte von folgendem:
Helga hatte als kleines Mädchen, ihr Schiffchen im See nicht mehr gefunden und weinte deswegen bitterlich.
Besonders oft erzählte er auch diese Story:
Helga hatte ein blaues Auge vom Nachbarsjungen verpasst bekommen, weil sie ihre Puppe nicht hergeben wollte. Der Nachbarsjunge war dafür bekannt, den Puppen die Köpfe abzureißen.
Er war ein Bad Boy, Mädchen sind braver. Was hätte er als Vater mit einem solch bösen Buben getan?
Taru wusste fröhlichere Geschichten zu erzählen.
Sie erzählte von ihrem Liebhaber Luigi, einem feurigen Italiener, sie sprach von „Amore“ und „Cuore“ in Rimini. Mit einem alten Volkswagen war sie 1955 über 4000 km an die Adria gefahren.
Kaum war Taru wieder zu Hause in Finnland hatte Luigi eine andere, diesmal eine blonde Schwedin, vier Wochen darauf eine Deutsche, natürlich auch blond. Ja, so sind sie halt die Italiener mit ihren schwarzen Haaren, wenn sie ein blondes Mädchen sehen, werden sie zum Stier.
Taru nahm es auf die leichte Schulter. Einmal im Leben eine Liebschaft mit einem feurigen Italiener, ist ein unvergessliches Erlebnis.
„Sei froh, dass es gewesen und sei nicht traurig, dass es vergangen“, war ihr Motto und Leitspruch.
„Faul sind sie auch noch die Italiener“, dachte sich Taru, um sich zu trösten.
Ich suche mir lieber einen Schweden, am liebsten einen, der einen sicheren Arbeitsplatz bei Volvo hat. Taru war nämlich verrückt nach Volvo, ihr erster war ein alter 244er, 12 Jahre alt. Der Ehemann wurde dann doch kein Schwede, sondern Matti, ein Finne. Schweden sind in dieser Gegend einfach selten. Aber immerhin war er Verkäufer im Volvo Autohaus. Kurz nach der Hochzeit 1977 gab es dann einen nagelneuen 760er für das lebenslustige Paar „Sweden‘ s finest Car“, sagte Tarus Ehemann immer wieder über seinen 760er, aber auch zu den solventen Kunden. „ I drive Sweden‘ s finest car and I married Suomi’ s most funny girl!“
Leider sprach Tarus Mann dem Schnaps zu und starb mit 80 Jahren an Herzversagen. Er war ein liebenswerter Mensch mit einer langen roten Nase, die im Laufe der Zeit immer länger und knollenartiger wurde.
Ein alter Volvo S 80 steht immer noch vor Tarus Haus, sie wird ihn niemals verkaufen. Er ist die schönste Erinnerung an Matti und seine Seele lebt in diesem Auto weiter. Die Leute spotteten, Taru liebe den Volvo mehr als die Männer, meistens sind sie ja zuverlässiger als Männer, diese alten Schnapsnasen und Casanovas. Matti war zum Glück kein Casanova und zuverlässiger als ein FIAT war er allemal.
Paavos Enkelin Aino lebte auch in der kleinen Stadt Kajaani mit ihrem Ehemann. Paavo spürte, dass weder die Enkelin noch ihr Gatte ihn besonders gerne mochten, sie hielten ihn einfach für altmodisch.
Er kaufte sich seit dem Tod seiner Frau keine neuen Kleider mehr, er sah im Fernsehen nur noch alte Filme oder sammelte Beeren und Pilze. Aino spielte an der Konsole gerne die Sims und wenn ihr dies zu langweilig wurde auch mal Assasins Creed, für sie gab es nichts langweiligeres als Beeren sammeln.
Taru hatte zur Geburtstagsfeier als Geschenk eine fünf Liter Kanne frische Milch vom Bauern mitgebracht. Was macht ein alter Mann mit fünf Litern Milch. Er wusste ganz genau, dass die Enkelin nicht homogenisierte Milch mit Fettklümpchen nicht mochte. Deshalb schüttete er sie in einen Mixer und bereitete frische Bananen und Erdbeermilch zu. Mit dem Rest setzte er Joghurt an. Früher war das ein Hochgenuss für die Kinder.
Die Urenkelin Lia, fünf Jahre, bekam ein Schälchen frischen Joghurt aus der verbeulten alten Milchkanne serviert. Leider war sie nicht begeistert und reif mäkelnd: „Ich esse nur Danone!“
Enkelin Aino war das furchtbar peinlich, ihr Ehemann war ein einfacher Postbote, sie mussten für ihre Wohnung über 600 Euro Miete bezahlen. Deshalb war ihr ein Kuvert mit 200 Euro, das der alte Paavo meistens mitbrachte der jungen Familie sehr willkommen. Zu Weihnachten gab es sogar fünf grüne Euro Banknoten.
Aino, die Enkelin, liebte die traurigen Geschichten ihres Opas nicht, schlimm genug, wenn die Mutter stirbt und man zu diesem Zeitpunkt gerade 16 Jahre alt ist. Bei Aino verflog die Trauer um die Mutter aber schnell, der Vater war viel unterwegs als Monteur und Aino konnte nach dem Tod ihrer Mutter tun und lassen was sie wollte, sie konnte und musste mit 16 erwachsen werden.
Sie ging gerne auf Parties und vergnügte sich, bis sie den Postboten kennen lernte. Es wurde geheiratet und das Leben verlief in den gewohnten Bahnen, es passierte nichts aufregendes mehr. Abends lief der Fernseher, das Auto musste abbezahlt werden. In den Ferien reiste man mit dem Flieger nach Spanien oder in die Türkei. Paavo hatte ziemlich viel Geld gespart und hätte seiner Enkelin gerne einen Zuschuss für ein kleines Häuschen am Waldrand gegeben, aber Aino fand das total spießig. Sie gab ihr Geld lieber für Flugreisen in den Süden aus. So kam es manchmal zu langen ergebnislosen Diskussion über das Ersparte des Großvaters.
Besonders peinlich wurde es, als die kleine Lia zu ihrem Uropa sagte: „Die Mama ist aber eine schlechte Erbschleicherin!“ Aino wäre am liebten im Boden versunken, aber ihr Opa musste lachen.