Svetlana pflückte ein kleines Sträußchen und hielt es unter die Nase, ein süßer sanfter Duft, viel sanfter als der der teuren Parfums lag in ihrer Nase. Sie begann ein Kränzchen zu flechten und legte es um ihr Handgelenk. Sie dachte: Ich mag die kleinen wilden Blümchen viel lieber als die hochgezüchteten Orchideen und Lilien. Nein, ich selbst bin keine Lilie, viel eher ein Gänseblümchen. Kaum ein Junge betrachtet mich, niemand staunt, wenn er mich sieht. Haben die Blumen eigentlich eine Seele? Wenn ich die Wiesenblumen in meiner derzeitigen Stimmung betrachte, scheint es mir sogar recht wahrscheinlich, obgleich ich es mit dem Verstand nicht fassen kann. Eine ganze Reihe Menschen bezeichnet die Wiesen- und Kornblumen als Unkraut. Hätten die unbedeutenden Blümchen eine Seele, würde es ihnen sicher weh tun, wenn man sie als Unkraut bezeichnen würden. Welchen Sinn außer das Herz der Menschen, vielleicht auch das der Vögel und Bienen zu erfreuen, haben Blumen eigentlich? Wie schnell wird ein Mensch, der nichts leistet, als Unkraut bezeichnet. Viele Mädchen möchten wie die großen Blumen, wie die Lilien und Orchideen sein, sie möchten bewundert werden, sie möchten, dass die Männer sich mit ihnen schmücken. Aber ich bin mir sicher, wenn die Blumen eine Seele haben, so ist jene der kleinen Wiesenblumen ebenso tiefgründig wie die der Orchideen.
Vor zwei Monaten hatte hier noch der Schnee gelegen und das Land mit einer dünnen Schicht, wie aus Puderzucker überzogen. Wie froh bin ich, dass er endlich vorüber ist, der Winter. Der Schnee, er ist ein falscher Geselle, er scheint süß wie Zucker und dennoch ist er kalt wie Eis.
Kann man zu den Menschen eine Parallele ziehen? Tragen die Menschen, die sich süß wie Zucker geben, vielleicht Kälte und Falschheit in ihren Herzen? Ich weiß es nicht, denn ich kann nicht in die Herzen der anderen hinein schauen. Viel lieber als der Schnee, ist mir der Sumpf. Er ist warm und weich und in dieser Eigenschaft ist er ehrlich. Er ist Sinnbild meiner trüben Gedanken, die mich ständig begleiteten. Ein Bächlein, kaum anderthalb Meter breit, schlängelte sich gemächlich am Birkenhain entlang. Eine sanfte Brise warf kleine gelbe Blätter von den Ästen. Ein schwarzer langbeiniger Vogel schnappte nach einem dünnen Regenwurm. Das Weizenfeld am Horizont schimmerte in kräftigem gelb. Svetlana blinzelte immer wieder, die Sonne blendete sie. Die Sonnenstrahlen verwandelten die Natur in ein seltsam glitzerndes Mosaik. Nie zuvor war ihr die Welt so gelb vorgekommen wie an diesem Tag. Welche Bedeutung haben die Farben, haben sie überhaupt eine Bedeutung? Am vergangenen Tag hatte noch ein grauer Schleier über der Landschaft gelegen.
Svetlana schrieb in ihr Tagebuch:
Die Stimmung wechselt wie die Farbe des Himmels. Himmel und Stimmung kann tagelang dunkel und grau sein, es kann aber auch nur einige Minuten dauern bis die Sonne am grauen Himmel auftaucht.
Ich bin nur ein einfaches Mädchen, ich bin kein großer Dichter. Sehen die großen Künstler die Welt mit anderen Augen, haben sie ein anderes Bild der Wirklichkeit, empfinden sie tiefer als ich? Ich glaube nicht, dass Puschkin das Gefühl der traurigen unerfüllten Liebe tiefer empfunden hat als ich. Er kann sich nur besser ausdrücken. Vielleicht empfindet sogar derjenige, der seine Gefühle nicht ausdrücken kann, tiefer, weil er mit ihnen alleine bleibt. Er empfindet das Gefühl in seiner Reinheit und Tiefe, weil er das Gefühl selbst und nicht die Worte, in das er es gekleidet hat, empfindet. Der Dichter verlagert es von der Brust in den Kopf und von dort auf die Zunge. Nichts kann man so schwer beschreiben wie die Gefühle. Ist die Sprachlosigkeit gegenüber der Natur und der Liebe sogar besonders tiefes, weil demütiges Gefühl? Ein Gefühl, wie es die betenden Mütterchen in der Kirche verspüren?