Die rote Kiefer

Der Roman erzählt von Gewinnern und Verlierern der Umgestaltung des sowjetischen Wirtschaftssystems. Er spielt in der Kleinstadt Krasnaja Sosna, in der Nähe des Zentrums der russischen Automobilindustrie Togliattigrad an der Wolga.

Er erzählt die Geschichte des Kaufmannes Morjakin, dessen Tochter Tatjana unter mysteriösen Umständen den Tod findet. Nach diesem Schicksalsschlag pflegt Morjakin Kontakt zu zwei blutjungen Dirnen. Er unterstützt die Studentin Warja und versucht, der sechzehnjährigen drogenabhängigen Melanie zu helfen.

Eine weitere Hauptfigur des Romans ist der Unternehmer Pavel Smirnov, der von Schutzgelderpressern bedroht wird. Sein Sohn Sergei ist mit Andrei Prokov, der mit Alkoholproblemen zu kämpfen hat, sowie mit dem psychisch kranken Medizinstudenten Peter Korsakov, befreundet.

Der rätselhafte Tod der Tatjana Morjakin

Am 4. Juli 1995 geschah in Krasna Sosna etwas Schreckliches. Tatjana, die Tochter des Kaufmannes Morjakin, wurde wenige Meter von ihrem roten Mazda MX 5 Cabrio entfernt, tot aufgefunden. Dem jungen Mädchen wurde der Bauch aufgeschlitzt und die Leber und das Herz herausgeschnitten. Blutverschmiert lag sie da im Straßengraben neben der Karosserie ihres Autos, das sich überschlagen hatte. Tatjana lag tot auf dem Rücken. Ihr weißer Pullover, die ebenfalls weiße Bluse und der BH lagen heruntergerissen direkt neben ihrer Leiche.

……

Gegen Nachmittag erschien die Polizei ein zweites Mal im Hause Prokov. Egerov, der Polizeichef von Krasnaja Sosna, wurde von einem Kommissar aus Kuibyschev namens Brudzinski begleitet. Brudzinki war ein kleiner, jedoch sehr athletischer Mann. Er trug einen hellgrauen Trenchcoat und einen Lederhut. Mit diesem Outfit erfüllte er die Klischees, wie ein Kommissar auszusehen habe. Nachdem Brudzinski sich vorgestellt hatte, behauptete er: „Tatjana wurde Opfer eines Mordes.“

Brudzinski hatte seit ein paar Jahren mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, insbesondere mit Schutzgelderpressungen, zu tun.

Tatjanas Vater war ein ausgesprochen erfolgreicher Kaufmann. Möglicherweise hatte die Mafia einen perversen Killer angeheuert, um Morjakin psychisch zu vernichten, so vermutete zumindest der Kommissar.

……

Brudzinski fragte noch: „ Haben Sie irgend einen Verdacht?“ worauf zunächst keiner der Anwesenden eine Antwort wußte. Daraufhin verabschiedeten sich die beiden Polizisten. Sergei Smirnov begann zu grübeln. Er konnte die Mafiatheorie nicht glauben, er vermutete den Übeltäter im Kreise der Exfreunde Tantjanas. Sie hatte, seit Wladimir, der Pilot, mit ihr Schluß gemacht hatte, Beziehungen zu mehr als fünf jungen Männern gehabt, von denen keine länger als ein Vierteljahr gedauert hatte. „ Mafia, das gibt es doch nur in Großstädten. Dieser Kommissar vermutet schon hinter jedem falsch geparkten Auto die Mafia“, meinte Sergei.

Der Detektiv Gennadi Rozanskov (genannt Rockford)

hilft Pavel Smirnov (Eigentümer einer kleinen Fabrik), der von Schutzgelderpressern bedroht wird.

Smirnov soll Geld in seinem Briefkasten deponieren. Daraufhin beobachtet der Detektiv in einem Ford Transit Smirnovs Haus rund um die Uhr. Zwei Männer in einer schwarzen Limousine holen das Geld gegen Mitternacht ab. Der Detektiv folgt den Gangstern bis zur großen Industriestadt Togliattigrad. Die Gangster verschwinden in einem Wohnblock am Rande der Stadt. Gennadi teilt diese Adresse Smirnov mit. Smirnov erteilt den Auftrag, dieses Haus weiter zu beobachten, um Hintermänner und Auftraggeber der Erpressung heraus zu bekommen.

Gennadi saß fünf Stunden hinter den Vorhängen des Lieferwagens, bis ein kleiner dunkelblonder Mann den Wohnblock verließ. Der fremde Mann hatte ein schmales, spitziges Gesicht und einen kleinen Schnurrbart, seine Unterarme waren mit großen grünen Buchstaben tätowiert. Dieser Mann sieht aus wie ein Verbrecher, dachte sich der Detektiv und in der Tat, der Unbekannte bestieg die schwarze Wolga Limousine. Gennadi Rozanskov kletterte auf den Fahrersitz des Lieferwagens. Er mußte den Dieselmotor eine halbe Minute lang vorglühen. Der Wolga war inzwischen um die Kurve gefahren. Endlich erlosch die orange Lampe, die das Ende des Vorglühvorgangs anzeigte. Gennadi drehte hektisch den Schlüssel herum, es gelang ihm zunächst nicht, das Lenkradschloß zu entriegeln. Er rüttelte am Steuerrad herum, endlich ließ sich der Schlüssel drehen. Der Transit sprang auf der Stelle an, Gennadi legte den Gang ein und brauste davon. Als er die Kreuzung erreicht hatte, konnte er in einer Entfernung von etwa 300 Metern den Wagen des Gangsters erkennen. Er gab Vollgas, der Abstand zu dem schwarzen Wagen verringerte sich. Der Wolga bog nach rechts in Richtung Moskau ab und fuhr auf eine vierspurige Umgehungsstraße. Der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen wurde kleiner, er schrumpfte auf 100 Meter, als eine Ampel auf Rot umschaltete. Der Wolga fuhr bei Gelb gerade noch über die Kreuzung. Im Rückspiegel des Ford Transits war ein Lada Nova der Miliz zu erkennen. „Verdammter Mist“, fluchte Gennadi. Er war sich in diesem Moment unsicher, ob er stehen bleiben, oder einfach bei Rot die Kreuzung überqueren sollte. Der Detektiv gab Gas und raste über die Kreuzung, obwohl die Ampel schon seit mindestens vier Sekunden auf Rot geschaltet hatte. Der Lada der Miliz schaltete das Blaulicht ein und folgte Gennadis Lieferwagen. Der Polizeiwagen rückte schnell näher und überholte Gennadis lahmen Lieferwagen. Mit einer roten Kelle wurde er zum Anhalten gezwungen. „Ausgerechnet jetzt halten mich die Bullen an!“ sagte er zu sich selbst, bevor er das Seitenfenster öffnete. „Guten Tag“, grüßte Gennadi freundlich. „Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht!“ entschuldigte er sich. „Haben Sie die rote Ampel nicht gesehen?“ fragte einer der beiden Polizisten. „ Ja, schon, ich habe gerade an meine Geliebte gedacht “, antwortete Gennadi, dem auf die schnelle keine bessere Ausrede einfiel. „ Sie hat wunderschöne dunkle Augen“, phantasierte der mit allen Wassern gewaschene, um die zwei Polizisten gnädig zu stimmen. „Ich hatte ein bißchen Verspätung, stellen sie sich vor, ich mußte an der Tankstelle da unten eine halbe Stunde warten, bis ich an der Reihe war“, log der Detektiv. Die Polizisten schmunzelten.

„Meine Nadjuscha wartet bestimmt schon seit einer Viertelstunde auf mich!“

Gennadi öffnete das Handschuhfach und holte eine Schachtel Marlboro heraus.

„ Raucht ihr eigentlich?“ fragte er scheinheilig. Der ältere der beiden Polizisten berührte Gennadis Kopf und streichelte ihn für eine Sekunde väterlich. Danach klopfte er ihm auf die Schulter, nahm sich eine Zigarette aus der Marlboroschachtel und wünschte eine gute Weiterfahrt.

„Da habe ich noch einmal Glück im Unglück gehabt“, sagte sich Rozanskov und blickte nach vorne. Der schwarze Wolga war natürlich verschwunden. Gennadi glaubte, ihn nach links in ein Villenviertel abbiegen gesehen zu haben. Ziellos fuhr Gennadi die Straßen des Villenviertels auf und ab. Er hoffte, den Wagen der Gangster irgendwo stehen zu sehen. Er fuhr jede Straße auf und ab, seine Stimmung verschlechterte sich zusehends.

Er hatte sich schon fast dazu entschlossen, nach Krasnaja Sosna zurück zu kehren um seinen Teilerfolg zu feiern, als er am Straßenrand der Villensiedlung einen schwarzen Wolga stehen sah. Gennadi bremste und blickte auf die Fahrzeugnummer, denn Autos dieses Typs und dieser Farbe sind in Rußland nicht gerade selten. Tatsächlich, es war der selbe Wagen, den die mutmaßlichen Erpresser benutzt hatten. Gennadi blickte um sich, er war in eine der exklusivsten Gegenden der Stadt geraten. Das Haus, vor dem der Wolga stand, war von einer zwei Meter hohen Betonmauer umgeben. Durch ein schwarzes schmiedeeisernes Tor konnte man auf ein circa 4000 Quadratmeter großes Grundstück sehen. Hinter einem kleinen Fichtenwäldchen war ein weißes Bungalow zu erkennen. Gennadi wurde durch das Gebell mehrerer Hunde erschreckt, als er das Seitenfenster öffnete. Um unauffällig zu wirken, holte er einen Karton aus dem Laderaum und tat so, als würde er beim Haus gegenüber Ware ausliefern. Dabei warf er auch einen Blick auf das schmiedeeiserne Tor, an dem außer einem Schild „ Warnung vor dem Hunde“ und der Hausnummer 24 nichts zu erkennen war. Wer würde hinter dieser Türe wohl wohnen ? Am Briefkasten war kein Namensschild zu sehen. Gennadi bestieg seinen Lieferwagen und fuhr 100 Meter zurück, als ihm ein alter Mann mit einem Dackel entgegen kam. Der Detektiv beugte sich aus dem Autofenster und sprach:

„ Guten Tag, ich bin vom Versandhaus, ich soll bei der Hausnummer 24 Ware ausliefern. Wissen Sie wer dort wohnt?“

„Hier wohnt Herr Yosip Bulotschnik“, antwortete der Spaziergänger freundlich.

Freudig über die positiven Ergebnisse seiner Nachforschungen kehrte Gennadi zu Pavel Smirnov zurück.

Smirnov befand sich gerade im Garten seines gepflegten Holzhauses und fegte mit einem Reißigbesen die Treppe. Als Gennadi vor seinem Haus hielt, sprang Pavel aufgeregt zum Zaun und fragte: „ Hast du schon etwas heraus bekommen?“

„ Ich glaube, es ist besser, wenn wir nach drinnen ins Haus gehen und über die Angelegenheit dort sprechen“, meinte der Detektiv. Smirnov warf seinen Reißigbesen auf der Stelle zu Boden und eilte zur Haustür. „Komm nur herein!“ sagte er erwartungsvoll. Die beiden Männer nahmen auf der Ledergarnitur im Wohnzimmer Platz, Olga Smirnovna stand gerade in der Küche und schälte Kartoffeln. „ Bitte mach uns heißen Kaffee!“ befahl Pavel seiner Gattin. Olga nickte willig.

Gennadi erzählte ausführlich und der Reihe nach den Hergang der Ereignisse des vergangenen Tages. Als er die Geschichte vom verständnisvollen Polizisten schmunzelnd mitteilte, rutschte Pavel auf dem Sofa nervös hin und her: „ Ich will das Wesentliche wissen!“ rief er. „ Ich will wissen, wer hinter der ganzen Sache steckt!“

„Der Kopf der Bande heißt vermutlich Yosip Bulotschnik“, sagte Gennadi leise und blickte über die Schulter. „ Was! Bulotschnik, das gibts doch nicht! Bulotschnik war mein früherer Chef. Dieses Schwein! Daß er so etwas nötig hat, das gibt’s doch nicht! Vor zehn Jahren war er mein direkter Vorgesetzter. Damals war er Exportchef für sämtliche europäische Länder. Heute gehören ihm Anteile der russischen Autoindustrie und viele kleine Fabriken. Der raffgierige Sack kann wohl überhaupt nicht genug bekommen. Ich werde zu ihm gehen und ihm gehörig die Meinung sagen, ich werde ihn verprügeln!“ „ Bleib ruhig Pavel, am besten du besprichst die ganze Sache mit deinem Sohn Petr, er hat einen kühlen Kopf“, meinte Olga, die im Hintergrund hießen Kaffee servierte.

„ Sie werden dich umbringen, wenn du deine Nase weiterhin so tief in die Angelegenheit steckst“, warnte Olga ihren Mann. „ Und wenn sie mich umbringen, so leicht lasse ich mich nicht kleinkriegen!“ rief Smirnov trotzig. „Gennadi, du hast gute Arbeit geleistet“, lobte Pavel, holte aus seinem Tresor dreihunderttausend Rubel und drückte dem Detektiv die Scheine in die Hand. „Ich werde wieder zu dir kommen, wenn ich dich brauche, aber ich muß jetzt alleine sein und mir eine Strategie überlegen.“

Wenige Minuten nachdem Gennadi das Haus verlassen hatte, kam Pavels Sohn Sergei von der Arbeit nach Hause. Pavel saß mit gesenktem Kopf im Sessel und starrte auf den Teppich.

„ Was ist los Vater?“ fragte er. „ Meine lieben Kinder, ihr seid die einzigen, zu denen ich Vertrauen habe. Bitte rufe auch die kleine Vera herein, sie sitzt in ihrem Zimmer und lernt für die Schule. Ich muß mit euch etwas besprechen.“ Pavel hatte mit seinen Kindern bisher noch nie im einzelnen über seine Konten in der Schweiz gesprochen.

„ Mein ehemaliger Chef Bulotschnik ist ein Verbrecher, er erpreßt mich, weil er weiß, daß ich über erfundene Hotel- und Benzinrechnungen Geld auf die Seite geschafft habe. Ich habe es nur für euch, meine lieben Kinder, getan. Ihr sollt auch später einmal im Wohlstand leben und meinen Betrieb weiter führen. Der fette Bulotschnik selbst hat auch illegal erworbene Gelder in der Schweiz. Er hat dies sogar zugegeben, als wir beide zusammen in einer Weinstube saßen und drei Liter Wein getrunken hatten. Ich fürchte, daß der Fettsack, mein Hab und Gut beschädigen wird, sofern ich kein Schutzgeld bezahle. Mein Auto hat er schon gerammt. Ich fürchte sogar, daß er euch kidnappen könnte.“

Die sechzehnjährige Vera wurde bleich im Gesicht und sprach: „ Was machst du nur für Sachen, lieber bin ich arm und muß keine Angst haben. Gibst du den Gangstern das Geld, werden sie dich in Ruhe lassen.“

„ Sie werden mich so lange nicht in Ruhe lassen, bis ich keinen einzigen Rubel mehr habe. Ich bin schwer enttäuscht von Bulotschnik, ich hielt ihn bislang für einen loyalen Kumpel. Ich habe ihn unterstützt, wo es nur ging und nun versucht der reiche Geldsack, mir mein Vermögen zu rauben.“ Der junge Sergei Smirnov meinte:

„ Ich vermute, daß die Idee, dich zu erpressen, gar nicht von Bulotschnik selbst stammt, vielleicht ist er Mitglied einer kriminellen Vereinigung und spielt dort seine Rolle. Die Männer, die das Geld abgeholt haben sind kleine Fischchen in einer großen Organisation des Verbrechens. Die Skrupellosen werden sich durchsetzen, solange in unserem Land diese Anarchie herrscht. Ich habe mir die neue Gesellschaft ganz anders vorgestellt.“

Der Medizinstudent Peter Korsakov war Exfreund von Tatjana Morjakina

Inzwischen verfestigte sich die Freundschaft zwischen dem Medizinstudenten Korsakov und Sergei Smirnov. Sie diskutierten über sehr viele Dinge, vor allem darüber, wie man sein Leben gestalten könne, die beiden rätselten immer wieder über den Tod von Tatjana Morjakina. Peter meinte: „Die Seele des Kindes ist durstig wie ein Schwamm, der sowohl Gutes wie auch Böses aufsaugt. Ich erinnere mich noch, als die kleine Tanja (Kurzform von Tatjana) ein Kind war. Sie streichelte sie die Kälbchen und Lämmchen, sie pflückte die Blumen und beobachtete die Vögelchen. Bevor sie tot war, wurde ihre Seele längst getötet. Die Mörder ihrer Seele sitzen in Tokio, in Paris und in New York und überall dort, wo Geldgier und Konsumterror herrschen. Anstatt sich über die Schönheit einer Blume oder über die Geburt eines Kälbchens zu freuen, blickte Tanja auf ihr Auto und ihre teuren Kleider. Wenngleich sie in Krasnaja Sosna die Schönste und Wohlhabendste war, es fand sich in Kuibyschev (Großstadt an der Wolga, 1,1 Millionen Einwohner) immer ein Mädchen, dem sie nacheiferte. Sie wollte gesehen werden, alle Männer sollten sehen, daß sie schön und reich war. Anstatt von mir geliebt zu werden, wollte sie gesehen werden. Auch ich sollte gesehen werden, doch ich war ihr nicht gut genug gekleidet, sie hielt mich für eine Schlafmütze, die ich auch bin. Ich wäre gerne mit ihr am Waldrand gelegen und hätte sie in Einheit mit der Natur geküßt und gestreichelt. Doch sie sprach nur davon, wo es was günstig zu kaufen gäbe. Verblieben zwei Stunden des Müßigganges, so organisierte sie sich einen Videofilm. Abscheuliche Grausamkeiten und blutrünstige Verbrechen prallten an ihrem Herzen ab, als hätte sie einen Walt Disney Kinderfilm gesehen. Normalerweise sollte der Mann die Rolle des Beschützers spielen, doch ich verspürte Angst, wenn ich mit ihr zusammen war. Es war die Angst, ihren Ansprüchen nicht gewachsen zu sein. Ich glaube nicht, daß ich das Medizinstudium schaffen werde, möglicherweise wird es mir ebenso wie dir ergehen, denn ich befürchte, daß ich den selben Beruf wie mein Vater niemals erfolgreich ausüben kann. Seit ich Tatjana nicht mehr habe, ist das Leben für mich gräßlich, das Schlimmste ist das frühe Aufstehen am Morgen. Aus den warmen Federn zu kriechen und sich in eine gefühlskalte Welt hinaus zu begeben, es ist einfach gräßlich. In dem Krankenhaus, in dem ich mein Praktikum machte, herrscht wirklich eine eiskalte Atmosphäre. Es dominieren die Apparate, einzig die Krankenschwestern geben ein wenig Herzlichkeit, für die die Ärzte keine Zeit haben.

Mir graut schon wieder vor dem nächsten Semester, das Aufstehen bei fünfzehn oder zwanzig Grad minus im Winter ist, als würde ich aus dem warmen Mutterbauch gestoßen und in einer eiskalten Höhle mir selbst überlassen.

Noch schlimmer als das Aufstehen ist die Tatsache, ständig von Gelüsten aller Art geplagt zu werden, während mich das Beschäftigen mit meinem Studium mir zu oft Unlust bereitet.“

Warja (21 )ist Gelegenheitsprostituierte und Geliebte von Grigori Morjakin, der ihr das Studium in Italien finanziert. In Monte Carlo hatte sie den jungen Tennisprofi Jiri ( 18 Jahre) kennengelernt.

Wenige Tage später verließ Warja Rußland wieder. Sie plante einen Zwischenstop in der Tschechischen Republik ein, um ihren Freund Jiri zu besuchen. Jiri hatte ihr mehrere Briefe geschrieben und ihr mitgeteilt, daß er sie gerne wiedersehen würde. Langsam fuhr der Zug in den Prager Bahnhof hinein. Die Bahnsteige waren mit einer gigantischen Glaskuppel, die von einer Stahlkonstruktion getragen wurde, überdacht. Mit schnellem Schritt durchquerte Warja die Bahnhofshalle, in der sich die Fahrkartenschalter befinden.

In der rot gefliesten Bahnhofshalle des Hauptbahnhofs glaubte sie, sich in einer künstlichen Welt, in einer Raumstation oder in einem Raumschiff zu befinden. Es war der naturfremdeste Ort, an dem sie sich jemals aufgehalten hatte. Warja hastete zum Ausgang. Sie war glücklich, als sie das natürliche Licht des Bahnhofsvorplatzes sehen konnte und ein paar Büsche und Bäume im Park betrachten durfte. Jiri wohnte ganz in der Nähe eines renomierten Tennisvereins am Rande der Stadt, der mit der Straßenbahnlinie 6 zu erreichen war. Über der Stadt thronte das Museumsgebäude mit seiner barocken Fassade, nach dem Hradschin das wohl eindrucksvollste Gebäude der tschechischen Hauptstadt. Warja spazierte hinunter zum Wenzelsplatz. Es war ein heißer Frühsommertag, die Temperatur hatte die 25 Grad überschritten. Warja zog ihre Sandalen aus und spazierte barfuß den Wenzelsplatz hinunter in Richtung Moldau. Die Pflastersteine waren heiß, ihre Füße brannten. Es war ein seltsames Gefühl, mit nackter Haut einen Platz, auf dem Geschichte geschrieben wurde, hinunter zu gehen. An ihren Beinen stellten sich die kleinen, blonden Härchen auf, es war ein Gefühl der Andacht und Bewunderung. Warja fühlte sich in der Millionenstadt als kleines Würmchen. Wieviele bedeutende Menschen würden über diesen Platz wohl schon gegangen sein? Warja wünschte, berühmt wie Michael Jackson, der in jeder Stadt dieser Welt die Stadien füllt, zu sein. Als kleiner Trost blieb die Tatsache, daß die meisten der Menschen, die sie an jenem Tag auf dem Wenzelsplatz sehen konnte, ebenso unbedeutend waren wie sie. Sie holte aus ihrer Reisetasche einen Brief Jiris, in dem der Weg zu seiner Wohnung am Stadtrand beschrieben war, heraus. Im Gewirr der großen Stadt die richtige Straßenbahnlinie zu finden, bereitete ihr Schwierigkeiten. Endlich konnte sie den Bahnsteig, auf dem die Linie 6 wegfuhr, finden. Sie bestieg eine klapprige gelb-rot getünchte Straßenbahn. Warja liebte die alten klapprigen Straßenbahnen, denn sie waren eine Erinnerung an ihre Kindheit. In Italien hatte sie die modernen orangefarbenen Busse benutzen müssen, die ihr überhaupt nicht gefielen. Die modernen Busse haben keine Seele, dachte sie und mußte sich im selben Augenblick widersprechen. Eigentlich ist es ein Unsinn, von seelenhaften und seelenlosen Dingen zu sprechen. Die Dinge, die man als seelenhaft bezeichnet und die man liebt, sind ein Spiegelbild der eigenen Seele.

Auf ihrer Fahrt wurde sie von den Eindrücken fast erdrückt. Fremde Häuser und fremde Menschen zogen an ihr vorbei und diese Fremdheit löste ein zwiespältiges Gefühl aus. Es bestand aus der Freude, die große weite Welt erkunden zu dürfen und aus der deprimierenden Stimmung, von niemandem beachtet zu werden. Zu diesem Gefühl paßte die Allgegenwart der Skoda Automobile. Die Autos schienen wie Freunde aus einer vertrauten und dennoch fremden Welt. Auf den Straßen waren fünf Generationen Skodas zu sehen. Vor allem der Anblick der ganz alten Modelle aus den fünfziger und sechziger Jahren stimmte Warja traurig. Die alten Autos werden in ein paar Jahren ebenso aus dem Straßenbild verschwinden, wie meine Urgroßeltern aus dieser Welt verschwunden sind.

Warja blickte dem Straßenbahnfahrer ins Gesicht. Sein Gesicht war ruhig und ausgeglichen, es zeigte weder Freude noch Frust. Er hatte volle Bäckchen und einen kleinen blonden Schnurrbart. An was wird dieser Mann wohl denken? Denkt er vielleicht, ich fahre gerne Straßenbahn, oder denkt er sich, hoffentlich ist mein Dienst für heute bald vorüber, ich freue mich auf ein gutes Bier und meine Frau.

Die Schienen der Bahn sah Warja als Symbol des Lebens, das in geordneten Gleisen verläuft, sie dachte: „Wäre ich der Fahrer, würde ich mir wünschen, die Bahn würde abheben und fliegen können. Ich würde mir wünschen, ich könnte nach Schanghai, Paris oder San Francisco fliegen und dort weiter Straßenbahn fahren.“ In Gedanken versunken, erreichte Warja die Endhaltestelle der Straßenbahnlinie. Von dort aus mußte sie noch fünf Stationen mit dem Bus fahren. Der Bus hielt in einer Neubausiedlung aus Plattenwohnblocks, die alle gleich aussahen. Warja öffnete erneut ihre Reisetasche und holte den Zettel mit Jiris Adresse heraus. Ihre Bekanntschaft aus Monte Carlo, Jiri Holub, wohnte im dritten Stock eines grauen Wohnblocks. Als sie den richtigen Eingang gefunden hatte, klingelte sie nervös an der Haustür. Eine zarte Frauenstimme meldete sich an der Türsprechanlage. „ Ich hätte gerne Jiri Holub gesprochen“, sagte Warja leise. „Er ist gerade beim Tennis“, war aus dem Lautsprecher am Eingang zu vernehmen. „Wer sind sie eigentlich?“

„ Ich habe Jiri in Monte Carlo kennengelernt, mein Name ist Warja!“

„ Kommen sie herauf, ich würde sie gerne sehen, ich bin Jiris Mutter.“ Warja betrat den Wohnblock und fuhr mit dem Aufzug hinauf in den dritten Stock. Eine hübsche, höchstens vierzigjährige, blonde Frau öffnete die Tür.

„ Kommen sie nur herein“, schlug sie vor. „ Wollen sie ein paar heiße Würstchen?“ Warja nickte. „ Die Würstchen schmeckten hervorragend, viel besser als die Würstchen, die sie in Rußland gewöhnlich zu essen bekam. Jiris Mutter beschrieb ihr den Weg zum Tennisclub, es waren nur fünf Minuten zu gehen. Warja machte sich sofort, nachdem sie die Würstchen verspeist hatte, auf den Weg zum Tennisplatz. Er befand sich hinter einem kleinen Laubwäldchen in einer idyllischen Umgebung. Vom Häusermeer der großen Stadt war nichts mehr zu sehen, der Tennisplatz war eine rot grüne Insel am Rande der Metropole. Die Plätze waren im Gegensatz zu den wenigen Tennisplätzen, die sie aus Rußland kannte, gepflegt. Die Netze hatten keine Löcher, die Linien waren gerade. Es lagen keine Flaschen und Tüten herum.

….

Von der Ferne aus konnte sie ihren Bekannten aus auf die gelben Bälle eindreschen sehen. Mit ungeheurer Wucht schlug Jiri die Bälle über das Netz, er stöhnte bei jedem Schlag. Als er Warja erblickte, legte er augenblicklich den Schläger auf den Boden und stürmte aus dem Platz heraus. Er umarmte Warja wie einen guten Freund, den er seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. „Ich muß noch eine halbe Stunde trainieren, danach kann ich den ganzen Abend mit dir verbringen.“

Warja bemerkte, daß Jiri, nachdem sie aufgetaucht war, überhaupt keine Lust mehr hatte zu trainieren. Er schlug die Bälle vielfach ins Aus und ärgerte sich nicht einmal darüber. Um vier Uhr war sein Training beendet. Jiri packte seine hellblaue Adidas Jacke in eine große, rote Wilson Tasche, führte die obligatorische Platzpflege durch und rannte im Laufschritt zum Clubheim, auf dessen Terrasse Warja mit einem Glas Coca Cola Platz

genommen hatte. Sie setzte sich zu ihm, der Duft des frischen Schweißes erregte sie angenehm. Jiri holte sich ein leichtes helles Bier und setzte sich zu Warja. Der junge Mann nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, er war durstig, außerdem hatte ihn das plötzliche Auftreten der schönen Russin nervös gemacht. Die Nervosität verringerte sich mit jedem Schluck des Gerstensaftes. Ein Glücksgefühl, intensiver und schöner als nach einem gewonnenen Turnier machte sich breit. Jiri rückte seinen Stuhl ein paar Zentimeter nach links um näher bei Warja zu sein. Auch die blonde Russin rückte ein Stück näher zu dem jungen Mann. Jiri streckte die rechte Hand zu ihr hinüber und zog sie gehemmt wieder zurück. Warja berührte die Schulter des hübschen Tennisspielers und streichelte seine Hand.

Geburtstagsrede Grigori Morjakin

Fünfzig mal in meinem Leben hat sich die Erde um die Sonne gedreht. Es ist eine lange Reise von vielen Millionen Kilometern, von der wir so gut wie nichts mitbekommen. Als ich geboren wurde, waren die meisten Menschen noch mit den Pferdefuhrwerken unterwegs. Die Reise zu den großen Städten an der Wolga ist heute ein kleine Spazierfahrt mit dem Auto, während sie für meinen Großvater noch eine große Reise war. Wohin geht sie, die Reise des Lebens? Ich weiß nicht, wann sie enden wird, ich weiß nur, daß sie irgendwann, sei es heute oder auch in fünfzig Jahren enden wird. Das Jahr ist eine Maßeinheit, die uns die Schöpfung gegeben hat, fünfzig mal haben die Bäume zu blühen begonnen und fünfzig mal hat sich unser Land in Schnee gehüllt. Eigentlich ist der heutige Tag ein ganz gewöhnlicher Tag, denn ich fühle mich mit 50 Jahren nicht anders als mit 49 Jahren und 364 Tagen. Doch die Zeit sie schreitet voran, unaufhaltsam. Ich blicke in den Spiegel und bemerke, ich bin kein Jüngling mehr. Ein Jahrzehnt zu vollenden, ist für uns Menschen etwas besonderes. Die Wissenschaftler vermuten, daß wir nach dem Zehnersystem rechnen, weil wir insgesamt zehn Finger haben, eine plausible Erklärung, denn unsere Kinder beginnen mit den Fingern zu rechnen. Wir Menschen rechnen und planen, wir planen unsere Zukunft, vielleicht auch noch die Zukunft unserer Kinder und Enkel, aber was die nächsten Jahrtausende bringen werden, kann uns keiner sagen. Wir verschließen die Augen vor der fernen Zukunft, weil wir genauso wissen, daß wir sie nicht miterleben werden.“

Morjakin zum Jahreswechsel

Morjakin hatte Feuerwerkskörper im Wert von mehreren Millionen Rubeln bestellt. Diese Artikel hatte er im Jahre 95 neu in sein Sortiment aufgenommen. Alexandra Morjakina war der Meinung, die Böller seien angesichts der Armut im Lande eine sinnlose Verschwendung. Sie schüttelte den Kopf, als sie von Grigoris Vorhaben, der in großem Umfang in dieses Geschäft einsteigen wollte, erfuhr. Grigori setzte sich zu Alexandra auf den Diwan, legte den Arm um ihre Schultern und sprach: „Raketen und Böller gehören einfach zur Silvesternacht. Arm und reich, all das ist vergänglich. Mein Reichtum, er ist vergänglich wie das Leben. Mein Leben, es wird verglühen wie die bunten Leuchtkugeln am Himmel. Im Vergleich zur Ewigkeit ist mein Leben kurz und heftig wie der Knall eines Kanonenschlags. Der Anfang von allem hat, wenn man den Physikern Glauben schenkt, mit dem Urknall begonnen, wenngleich dieser Knall natürlich nicht mit mit dem eines Böllers vergleichbar ist. Es ist vielmehr das Wort Knall, das mich an den Anfang aller Dinge erinnert.

Neujahr ist das Fest der gemischten Gefühle. Das Feuerwerk ist der Höhepunkt einer Neujahrfeier, es unterstützt und verstärkt die gemischten Gefühle. Auf glitzernde Goldkugeln und Silberstreifen folgt bis zur Zündung der nächsten Rakete die bange Finsternis. Ebenso folgt der Freude auf ein rauschendes Fest in der Regel depressive Katerstimmung. Silvester ist der Zeitpunkt, zu dem wir Bilanz ziehen. 1995 war das Jahr der Schicksalsschläge, das kann ich jetzt schon sagen.“ „ In zwei Wochen werden wir das Weihnachsfest feiern. Ich weiß nicht, wie ich dieses Fest ohne Tanjas strahlende Augen überstehen werde“, sagte Alexandra und verbarg ihr Gesicht hinter den Händen.

Der Italiener Bondoni lebt mit seiner Frau Nina in einem kleinen Bauerhäuschen in Krasnaja Sosna

„Warum hast du eigentlich Italien verlassen?“ Warum lebst du hier mehr oder weniger am Ende der Welt?“ fragt ihn Sergei Smirnov.

„ Das ist eine lange Geschichte. Kurz gesagt, ich tat es aus Liebe und aus Haß. Vor vielen Jahren, es mögen zwanzig Jahre gewesen sein, ich war damals siebzehn, besuchte ich eine Veranstaltung der PCI, der kommunistischen Partei Italiens. Die PCI und die Partei unseres Landes veranstalteten damals einen Jugendaustausch. Ich selbst war niemals Mitglied der PCI, denn ich hasse Parteien. Vor allem hasse ich es, stundenlang bei Reden zuhören zu müssen. Ich haße es, um Posten zu buhlen und andere ausstechen zu müssen. Im übrigen hätte ich mich geschämt, wenn ich meinem Vater hätte sagen müssen, ich sei Mitglied dieser Partei.

Dennoch besuchte ich gelegentlich Veranstaltungen der PCI, es war wunderschön das rote Meer der Fahnen zu sehen. Nachdem auf der Piazza drei Stunden lang Reden geschwungen waren, wurden russische Tänze aufgeführt und kostenlos eine kräftige Gemüsesuppe mit Würstchen nach russischem Rezept ausgeschöpft. Unter einer Zeltplane konnte man im Schatten Platz nehmen. Unter dieser weißen Zeltplane passierte es. Ich sah das Mädchen, das mein Leben grundlegend verändern sollte, zum ersten Mal. Ihr Name ist Ninotschka, sie war damals fünfzehn Jahre alt, ihr Haar ist braun, es glänzt leicht rötlich. Ihr Gesicht war zart, wie eben das Gesicht einer Fünfzehnjährigen ist. Ninotschka war nicht häßlich, aber auch keine Schönheit, sie hatte ein paar Pickel und ihre Nase war ziemlich lang. Es waren vor allem ihre Augen, die mich sehnsüchtig machten. Die Augen der Italienerinnen sind wie die Blitze einer Photokamera, sie blitzen kurz auf und werden danach wieder finster, während die Augen Ninotschkas gleichmäßig leuchteten wie eine Kerze. Sie strahlten nicht ihre Augen, doch sie verbreiteten ein dumpfes Licht. Sie waren ein wenig traurig, als würden sie fragen : Wer hat mich lieb, mich kleine Kerze im Licht der großen Scheinwerfer und Neonröhren. Ihre Stimme war zart und fein, sie wirkte schüchtern. Ich sprach sie an und goß ihr ein Glas Wein ein, sie begann von sich zu erzählen. Ihr Vater war ein kleiner unbedeutender Parteifunktionär, der den Schüleraustausch mit Italien organisierte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich liebte Ninotschka, weil ihr Haar rot glänzte, doch es war ein anderes Rot als das Rot der kommunistischen Fahnen. Hinter dieser Farbe versteckte sich keine Ideologie, sondern eine sensible Seele. Ja, sie war eine Seele, die danach dürstete geliebt zu werden. Ich bin heute noch stolz darauf, sie lieben zu dürfen, denn sie ist ein wunderbares Wesen. Sie ist nicht sonderlich intelligent und ich bin froh darüber.

Wer die Intelligenz in den Dienst des kapitalistischen Wirtschaftssystems stellt, verliert die Fähigkeit zu lieben. Ich hasse sie, die Karrierefrauen, doch das ist nicht frauenfeindlich gemeint, denn ich hasse die Karrieremänner ganz genauso.

Ich habe mein Heimatland auch aus Haß verlassen. Ich sage Haß, es ist ein hartes Wort, aber ich habe dieses Gefühl auch heute noch in meiner Brust. Ich hasse vor allem meinen Bruder, denn er hat sich das ganze Vermögen meines Vaters unter den Nagel gerissen und er hat immer noch nicht genug. Er will immer reicher und reicher werden. Reich sein, wer will das nicht, ich würde mich selbst belügen, wenn ich sagte, ich wollte nicht reich sein. Als ich ein junger Mann war, habe ich es gehaßt, das westliche System der Herrschaft der Reichen und Superreichen. Heute lebe ich von einem bescheidenen Vermögen, ich lebe nicht schlecht, doch ich würde gerne besser leben. Mein Bruder lebt im Überfluß, er hat mindestens zehn Häuser und besitzt einen Industriebetrieb. So sehr ich die Kapitalisten hasse, um so sehr bewundere die Menschen, die ihre Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Ich bewundere Politiker und Künstler, denn ihr Engagement liegt in erster Linie nicht im Gelderwerb, sondern darin, den Menschen etwas zu geben. Als ich ein junger Mann war, habe ich Breschnev bewundert und ich weinte bei seiner Beerdigung Tränen.“ „Ein wahrhaft seltsamer Mann, dieser Bondoni!“ dachte Sergei Smirnov.

Am frühen Abend des folgenden Tages besuchte Sergei Smirnov seinen neuen Freund. Er saß wiederum auf der kleinen roten Bank vor seinem Holzhäuschen und sah den Hühnern beim Fressen und Picken zu. Wenige Minuten später kam Ninotschka, Bondonis Frau, von der Arbeit zurück. Der Italiener erhob sich von der Bank und ging auf seine Frau zu, er küßte sie auf beide Wangen. Ninotschka begrüßte Smirnov mit einem schüchternen Lächeln und betrat ihr Häuschen. Wenige Sekunden später drang aus dem Haus das Geräusch des Fernsehers. „Meine Ninotschka, sie ist fasziniert von Fernsehen und Video. Sie konnte sich so sehr freuen, als ich ihr aus Italien einen Farbfernseher und einen Videorecorder mitgebracht habe. Ich frage mich oft, ob der Konsum glücklich macht? Zweifellos haben diese Geräte, die im Hause meiner Eltern schon seit fast zwei Jahrzehnten stehen, der kleinen Ninotschka Freude bereitet. Doch wenn das Kaufen zum Lebenssinn wird, wenn es heißt, ich kaufe also bin ich, dann sind wir auf dem falschen Weg. Es muß richtig heißen, ich lebe, also bin ich. Mein Schwiegervater ist ein überzeugter Kommunist. Er wäre gerne der Vorsitzende der sozialistischen Jugendorganisation geworden, er ist heute noch stolz auf die Tatsache, vor vielen Jahren Egon Krenz, dem ehemaligen Vorsitzenden der FDJ, die Hand geschüttelt zu haben. Heute ist er ein gebrochener Mann, seiner Ziele beraubt. Das etwas werden wollen, das etwas sein wollen, ist noch schlimmer als das „Haben“. Denn was du hast, das hast du, sei es ein Konsumgut oder eine liebe Frau. Es wird dir in einer Gesellschaft, in der die Ehe und das Eigentum geschützt ist, auch nicht so schnell weggenommen. Das etwas werden wollen, sei es der Beste, der Reichste, Schönste oder Schnellste, ist zwar nicht unbedingt moralisch verwerflich, aber es zerstört die Seele. Ich stamme aus einem Land, in dem der Wettbewerb großgeschrieben wird, er wird gar als der Motor der Gesellschaft bezeichnet. Alle rennen ihren Zielen nach und die allerwenigsten erreichen sie, sie landen bestensfalls irgendwo im Mittelfeld. Ich setze mir keine Ziele mehr, denn sobald ich sie erreicht habe, zerfallen sie vor meinen Augen. Das einzige Ziel, das ich habe, ist Ninotschkas Augen glücklich zu sehen.“ „ Was sagt sie denn zu deiner Philosophie?“ „ Ach sie ist herrlich naiv. Am liebsten wäre sie wohl eine Prinzessin gewesen. Meine Nina hat wegen Lady Diana aus dem Buckingham Palast schon einige Tränen geweint. Diana ist eine Prinzessin, aber sie ist unglücklich, so habe ich zu ihr gesprochen und sie in meine Arme geschlossen. Meine Ninotschka arbeitet im Milchladen da drüben, weil sie eine Aufgabe haben möchte, denn sie kann es ohne Arbeit nicht aushalten. Sie steht um sieben Uhr morgens auf und geht zu Fuß die 300 Meter zu ihrem kleinen Laden. Von den paar Rubeln, die sie dort verdient, könnten wir nicht besonders gut leben, aber ich habe ein kleines Vermögen und dieses Vermögen ist wie eine Versicherung, die mir ihre Treue sichert. Während sie Kisten herumschleppt, schlafe ich und manchmal schäme ich mich auch, weil ich nicht so fleißig bin wie sie. Wenn mich dieses Schamgefühl erfaßt, greife ich zu Schmirgelpapier und Sprühdose und bastele an meinen Autos in meinem Hof herum. Aber meistens höre ich nach einer Stunde wieder auf, weil ich einfach keine Lust mehr habe. Ich lege mich dann hin und schlafe.

Ich liebe den Schlaf, für mich ist er nicht der Bruder des Todes, sondern er ist für mich ein großes Kino, in dem ich selbst der Hauptdarsteller bin. Ich habe des nachts sehr viele Träume. Mein Bruder dagegen, so hat er mir erzählt, hat selten Träume und wenn er träumt, dann in scharz -weiß, während ich in Farbe träume. Die Träume sind das wahre Leben, denn in ihnen bin ich der Regisseur, während wir im Leben Marionetten der Einflußreichen sind. So sehr ich die Farben meiner Träume liebe, um so mehr hasse ich die Farben der westlichen Großkonzerne. Die bunten Farben der westlichen Welt haben mich vertrieben in dieses ehemals sozialistische Land, ich habe versucht ihnen zu entrinnen, aber sie sind mir gefolgt.

Die Tankstellen der sozialistischen Länder, waren Ausdruck der Bescheidenheit. Wenn ich über die tschechische Grenze fahre, sehe ich heute die bunten Tankstellen der Großkonzerne und ich fürchte, sie werden dieses Land ebenso erobern wie sie Italien erobert haben. Nirgendwo weht der Wind des Kapitalismus heftiger und nirgendwo ist der Geruch des Geldes stärker zu vernehmen als an den Tankstellen. Erdöl, das ist der Geist von Rockefeller. Shell und Esso sind zu den mächtigsten Götter der USA geworden. Die Menschen verehren sie vor allem wenn die Sonne untergegangen ist. Ihre Götzendiener haben das Spektrum des Sonnenlichtes aufgespalten in die Grundfarben Gelb, Rot und Blau. Bei Nacht leuchten sie heller als der Mond. Die Neonröhren töten jegliches Gefühl für Romantik und Zärtlichkeit. Was entsteht, ist die Gier nach Spaß und Geld. Doch es sind nicht nur die Farben der Tankstellen, die mich vertrieben haben, ich bin ein Sklave von Phillip Morris und Reynolds gewesen. Der verführerische Duft, verpackt in süße kleine Schächtelchen, der milde Geschmack des parfümierten Tabaks, der sanft die Bronchien kitzelt und im Mund einen würzig herben Geschmack hinterläßt, hat mich zum Sklaven gemacht. Warum erleben wir das Rauchen einer Zigarette als Akt der Freiheit? Es ist nicht nur die Werbung, die uns Freiheit verheißt, denn in den Ländern, in denen die Zigarettenwerbung verboten ist, qualmen die Menschen ganz genauso. Das Rauchen ist etwas, das wir als Kinder nicht dürfen. Es ist der Reiz des Verbotenen, der das Rauchen zum Freiheitserlebnis macht. Kind sein, bedeutet ständige Unterdrückung.

Sergei Smirnov unterhält sich mit Warja

Sergei wußte nicht, worüber er sprechen wollte. Er begann von der Hochzeit seines Bruders zu erzählen: „ Es war wunderschön romantisch, ich kann mir kein schöneres Paar als die beiden vorstellen.“ „ Ich hasse dieses ganze Hochzeitsgehabe, ich hasse die weißen Brautkleider. Sie sind ein Symbol der Reinheit, doch sie sind ein Symbol der Verlogenheit unserer Gesellschaft. Einen Tag lang schwört man sich die wahre Liebe und was in den meisten Fällen folgt, ist jahrelanger Streit. Die meisten Paare, die ich kenne, passen nicht zusammen. Sie bleiben zusammen, weil irgendwann die Kinderlein kommen und in unserer Gesellschaft die Familie eine heilige Kuh ist. Die Familie ist die „Keimzelle des Gesellschaft und des Staates“, so sagte ein alter Professor der Universität in fast jeder Vorlesung. Ich kann diesen Satz wirklich nicht mehr hören. Ich bin der Meinung, daß professionelle Pädagogen noch viel stärker an der Erziehung beteiligt werden sollten, als dies in der Sowjetunion geschehen ist. Ich fordere gleichzeitig auch mehr Rechte für Kinder. Was kann ein Kind dafür, wenn es in einer Familie, in der Armut, Gewalt oder auch nur Geiz und emotionale Kälte herrschen, geboren wird. Familie als Keimzelle des Staates, am liebsten hätte ich dem Professor, der das gesagt hat, eine Stinkbombe in die Aktentasche geworfen. “

„ Ich vermute, daß dieser alte Professor ein sehr glückliches Familienleben hatte. Ich habe in meiner Familie nie viel Harmonie gespürt, doch ich kenne Familien, die recht harmonisch sind. Überall gibt es hin und wieder Streit, doch ich weiß nicht, ob du recht hast, wenn du die Instituion Familie so sehr kritisierst. Die Familie ist eine schlechte Instituion, aber ich kenne keine bessere, so möchte ich das Zitat Churchills abändern, der gesagt hat: „Demokratie ist die schlechteste Staatsform die ich kenne, aber ich kenne bessere.“ „Demokratie wenn ich das schon höre, das Gerede von der Demokratie ist die selbe scheinheilige Lüge wie das Gerede von „Familie als Keimzelle des Staates“. Im Staat herrschen die Mächtigen, ganz egal, ob sich eine Demokratie Volksdemokratie oder parlamentarische Demokratie nennt. Mich kümmern die Mächtigen im Kreml, oder in sonst einem Parlament überhaupt nicht. Was den Menschen für sein ganzes Leben prägt, passiert in der Kindheit. Die Machtverhältnisse und Einflüsse in der Familie sind weitaus wichtiger als die große Politik. Die Weichen dafür werden in der Kindheit gelegt. Wären Karl Marx und Friedrich Engels in ihren Familie glücklich gewesen, wären sie tüchtige Kaufleute anstatt Revolutionäre geworden.“

„ Die Politik bestimmt unser Leben stärker als du denkst. Es ist ein riesiger Unterschied, ob du ein Gewerbe frei betreiben kannst, oder ob die staatliche Macht alles kontrolliert. Die Einstellungen und Meinungen zu einem Wirtschaftssystem reifen doch nicht in der Kindheit, sondern in späterem Alter. Was interessiert sich ein Kind schon für Politik“, meinte Sergei.

„ Und doch entsteht die Abneigung für gewisse Strukturen in der Kindheit, in der Kindheit fallen die Entscheidungen, ob wir ein Ja-Sager oder ein Revoluzzer werden.“ Diesem Ausspruch folgte eine längere Periode des Schweigens.

Andropov ( bildender Künstler) ist ebenfalls ein Ex- Freund von Tatjana Morjakina

„Fjodor Andropov ist mir verdächtig vorgekommen. Als ich ihn auf den Tod von Tatjana Morjakina ansprach, zuckte er zusammen.“

Einen Tag später besuchte Egerov, der Polizeichef, in ziviler Kleidung Fjodor Andropov. Als er die kleine Holzhütte, in der er lebte, betrat, stolperte er über ein Paar Turnschuhe und trat auf einen Pullover. Überall lag die Wäsche herum, ungespülte Töpfe und Kartoffelschalen lagen im Waschbecken. Ein Unzahl Aquarelle und einige Ölgemälde hingen absichtlich schief aufgehängt an den Wänden. Sämtliche Bilder zeigten abstrakte Motive.

„Warum liebst du denn die Ordnung nicht, mein Freund?“ fragte der Polizist. „ Die Ordnung ist etwas, das ich mir selbst aufgezwungen habe. Die Unordnung hingegen ist ein Kunstwerk, das aus der Tiefe der Seele kommt. Ich bin ein großer Fan des Wiener Künstlers Friedensreich Hundertwasser. Als Hundertwasser gefragt wurde, weshalb er zwei verschieden farbige Socken trage, hat er geantwortet, warum tragen Sie zwei gleichfarbige? Ich könnte dich zum Beispiel fragen, warum stellst du deine Schuhe in Reih und Glied auf ? Ziehe ich meine Schuhe oder meinen Anorak aus, so liegen die Dinge dort, wo mein Unbewußtes sie gerne hinlegen würde. Mein Haus ist ein Ausdruck dessen, wie es in meinem Inneren aussieht.“

„Sieht es denn in deinem Inneren so schrecklich aus?“ fragte Egerov.

„Die alten Griechen glaubten, die Materie sei vom Chaos beherrscht, doch die physikalischen Gesetze der Materie sind immer noch leichter verständlich als die Vorgänge in den Köpfen der Menschen. Unser Geist gehorcht ebenso wie die Materie den Naturgesetzen. Wir haben keinen freien Willen, alles ist vorherbestimmt, so wie du ein Ordnungshüter bist, bin ich der größte Chaot der Stadt und ich bin ein überzeugter Chaot. Überzeugungen könnte man als Gehirnsoftware bezeichnen. Leider sind die Überzeugungen in einer Programmsprache geschrieben, die kein Mensch versteht. Wenn wir etwas nicht verstehen, so sehen wir darin das Übernatürliche. Der freie Wille ist ein Mythos, es gibt ihn ebensowenig wie den Minotaurus oder den Gott Donar.

Siehst du die verschissene Unterhose und die stinkenden Socken auf dem Tisch. Ich habe sie aus voller Überzeugung dorthin gelegt. Mein Vater und eine Schar Spießbürger würde sagen: „Beim Millitär hätte man dir sicher Ordnung und Moral beigebracht!“ Aber ich sage dir, tausend stinkende Socken sind mir lieber, als ein Gewehr, mit dem du tausend Menschen erschießen kannst. Siehst du die beiden Witzfiguren aus Pappmachee dort in der Ecke, Egerov?“ fragte Andropov nun. In der Ecke von Fjodors Häuschen befanden sich zwei Figuren, die mit einem Rupfensack und Millitärstiefeln bekleidet waren. „Das ist sind ja Gorbatschov und Gromiko!“ rief der Polizeichef. Die Gesichter zeigten leicht erkennbar die beiden ehemaligen russischen Politiker. „Ich bewerfe die beiden mit Tomaten und Kartoffeln, wenn ich Lust dazu habe. Als die beiden noch an der Macht waren, habe ich sie häufiger mit Lebensmitteln beworfen. Du kannst sagen, das sei eine Verschwendung, ich aber sage dir, jeder Liter Benzin, der für die Panzer und Kriegsflugzeuge ausgegeben wird, ist eine dümmere und sinnlosere Verschwendung.“

Andropov trug an diesem Tag eine orange Jogginghose und hatte seine Haare grün gefärbt. Egerov kam dieser junge Mann wie ein Wesen aus einer anderen Welt vor. „ Erzähle mir ein bißchen von deinem Verhältnis zu Tanja Morjakina!“ schlug Egerov vor. „ Als ich mit ihr zusammen war, habe ich mich angezogen wie die große Maße der Menschen, ich habe mir die Haare blond gefärbt und hellblaue Jeans getragen. Mein Haar sollte die gleiche Farbe wie ihres haben und die Jeans sollten mich an ihre strahlend blauen Augen erinnern. Zur Zeit als ich mit der Kuibyschever Punkergang verkehrte trug ich schwarz, doch ich begann diese Farbe zu hassen, denn sie ist die Farbe des Todes und der Pfaffen. Ich trage jetzt rot und grün, die Farben, die auf dem Photonegativ die Umkehrfarben sind, denn ich nehme mir die Freiheit alles umzukehren, was ich nur umkehren kann. Zur Zeit als ich mit Tanja zusammen war, hoffte ich zu werden, wie es die anderen auch sind, sie und ihre Familie gab mir die Illusion ein bürgerliches Leben führen zu können. Ich wäre gerne ein Geschäftsmann geworden, denn hast du den Geruch des Reichtums einmal vernommen, kannst ihn nie mehr vergessen. Es war wie ein Traum, sich den Sommerwind in ihrem offen Wagen um die Nase wehen zu lassen. Ich glaube, sie hat mit mir Schluß gemacht, weil es der alte Morjakin so wollte, dieser alte Geldsack. Sie war ein treuloses verzogenes Pappakind. Ich bin meinem Vater nie in den Arsch hineingekrochen, ich habe mir mein Leben selbst gestaltet.“

Am Morgen aufzustehen und einer Arbeit nachzugehen, verursachte einen derart starken Ekel , daß er schon viermal eine Ausbildung abgebrochen hatte und fast jeden Job nach spätestens einer Woche hinschmiß. Fjodor war 24 Jahre alt und hatte 3 Jahre in Berlin gelebt. Kurz nach dem Fall der Mauer hatte er sich zunächst ein Touristenvisum beschafft, sich in den nächsten Zug gesetzt und die Reise in die vermeintliche Freiheit angetreten. Vor acht Jahren mit dem Beginn der Perestroika hatte Fjodor begonnen, sich wie ein Punk anzuziehen. Es begann langsam mit schwarzen Jeans und alten Millitärstiefeln. Lange überlegte er sich, ob er sich einen Irokesenhaarschnitt zulegen sollte. Er hätte seine Eltern gerne geschockt, doch er hatte noch nicht den Mut dazu, er befürchtete nicht nur von den Lehrern , sonderen auch von seinen Mitschülern und vor allem von den Mädchen sanktioniert zu werden. In Krasnaja Sosna war er der einzige Punker, in Kubichev dagegen kannte er eine Clique, die den Punk kultivierte. Auch die Mitglieder dieser Clique trugen unter der Woche gewöhnliche Frisuren, am Wochenende jedoch stylten sie sich mit Farbe und Haarspray zurecht. Sie beschmierten ihre Jacken und Hosen mit dem Anarchiezeichen. Es war das Jahr 1987, in dem Fjodor zum Punk wurde, auf seine Lederjacke sprühte er den Spruch: „ Fuck Charly and Wolodja!“ Mit Charly und Wolodja waren Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin gemeint, was auch fast alle, die ihn kannten, wußten. Besonders gerne beschrieb er Toilettenwände mit Filzstiften mit dem Spruch : „Chaos an die Macht!“ Er legte sich mit fast allen Lehrern an, vor allem mit dem Direktor der Schule, den er neben Honnecker für den größten Arschkriecher der Welt hielt. Fjodor wurde neben Gelmut, wir erinnern uns, er hatte den Lada Samara des Lehrers Popov mit Odel besudelt, zum Enfant terrible der Stadt. Krimminelle Energie nannte der Direktor die Motivation, die hinter sich den Taten Gelmuts und Fjodors verbarg. Im Gegensatz zu Gelmut war Fjodor introvertiert, bevor er eine Sachbeschädigung durchführte, machte er sich Gedanken. Seine Schmiererein kamen aus der Tiefe der Seele, er handelte aus einem unbeschreiblich großen Haß gegen die Mächtigen. Fjodors Vater war jahrelang als ranghoher Offizier der Armee in der DDR stationiert. Nachdem er im Alter von 42 Jahren ausschied, bekam er einen führenden Posten in der Verwaltung eines Industriekombinats. Seine Mutter war Deutsche, sie stammte aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Berlin. Gehorsam und Sauberkeit waren die Werte, die seine Eltern ihm zu vermitten versuchten, doch aus dem Offizierssohn wurde ein Anarchist, der sich seit seinem 20. Geburtstag nur viermal im Elternhaus sehen ließ.

Mit seinem Kumpels aus Kubischev zog Fjodor Andropov während der Jahre 88 und 89 fast jeden Freitagabend betrunken durch Gassen. Seine Kumpels knickten gerne die Antennen der Autos oder warfen gelegentlich eine Scheibe ein, was ihnen Spaß zu bereiten schien. Fjodor hatte nie Spaß , irgend etwas zu beschädigen, er handelte, wenn er eine Wand beschmierte, aus einer tiefen Verzweiflung, aus der Sehensucht nach einem ganz anderen Leben. Aus diesem Grund wurde er schnell zum Sauertopf der Punkergang aus Kubischev, auch die Punkmusik wurde ihm nach einer gewissen Zeit zu hart, er liebte auch ruhige melodische Schlager wie den Hit „Dreams are my Reality“ aus dem Spielfilm La Boum. Er verliebte sich in Sophie Marceaux, die in diesem Film die Hauptrolle spielt. Die Beziehung zu den Kubischever Punks brach er nach der Feier zu seinem achtzehnten Geburtstag ab. Seine Elterns erlaubten ihm damals, eine Fete in ihrem Hause zu machen. Dabei riß Medvedev, der Alphatyp der Gang, Fjodors Lieblingsposter, auf dem Sophie Marceaux abgebildet war, herunter und spülte es ins Klo. Sein Eintritt ins Erwachsenenalter begann mit einer Zerstörung einer Sache.

Seither war die Gewalt gegen Sachen für ihn ein nicht legitimes Mittel, anarchistische Gesinnung zu zeigen. Nirgendwo fühlte er sich verstanden, was auch der Grund dafür gewesen war, Rußland zu verlassen und nach Berlin zu gehen. Von seiner Mutter hatte er Deutsch gelernt und kannte den Osten Berlins bereits als fünfjähriges Kind. Den Westen, die andere Seite kannte er nur von wie auch immer eingeschleusten Videofilmen. Es war kurz nach der Wiedervereinigung, als Fjodor mit dem Zug im ehemaligen Ostteil der Stadt ankam. Am ehemaligen Todesstreifen standen graubraune Ruinen zwischen denen die Bagger, Radlader und Planierraupen herumkrochen. Es sah aus wie in einer Geisterstadt zu der das Leben zurückkehrt. Fjodor machte schnell die Erfahrung: „Hier in dieser Stadt mußt du dich um dich selbst kümmern.“ Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Er hatte lediglich Geld im Wert von 250 Mark bei sich, ein geringes Startkapital für den Westen. In seiner Heimat drehten sich die Menschen um, wenn er mit grünen Haaren oder seiner alten Jacke bekleidet durch die Straßen zog, hier in Berlin beachtete ihn kein Mensch. Die Passanten hasteten an ihm vorbei, alle schienen es eilig zu haben. Er sah eine Vielzahl von Bettlern auf den Straßen, fragte er selbst einen Passanten nach einer Mark, bekam er oft die Antwort: „ Geh doch arbeiten!“ zu hören. Arbeit zu finden war ein noch größeres Problem, als sich ein paar Münzen zu erbetteln.

Fjodor nahm die U Bahn bis zum Stadtteil Kreuzberg. Alleine schlenderte er durch die Gassen, hier in diesem Stadtteil war Graffity etwas völlig Normales. An nahezu jeder Wand, an den Schulmauern, in den Bahnstationen, überall waren die Wände mit mehr oder weniger orginellen Sprüchen oder Bildern beschmiert. Die Allgegenwart des zuhause verbotenen erregte bei ihm Angst. Schließlich sah er ein Haus, dessen Fassade mit besonders vielen Bildern bemalt war. Bei vielen Fenstern fehlte das Glas Im Hintergrund waren mehrere kahlköpfig geschorene in schwarzes Leder gekleidete Menschen zu sehen.

Er beschloß dort hineinzugehen. Im Treppenhaus lagen mindestens vier Zentner Müll.

Langsam stieg er die Treppe hinauf und klopfte an einer Tür im ersten Stock, er beabsichtigte sich Freunde aus der autonomen Szene zu suchen. Ein etwas achzehnjähriges Mädchen öffnete die Tür, sie trug schwarze Kleidung ,die zu ihrem blassen Gesicht einen starken Kontrast bildete. Fjodor war ähnlich wie sie angezogen, durch sein Äußeres wurde ein solidarisches Gefühl auf beiden Seiten geschaffen. Er fragte sie: „Ich bin ganz neu hier in Berlin ich suche einen Platz wo ich für ein paar Tage übernachten kann.“ Das Mädchen meinte:

„ Du kannst schon dableiben.“ während ihr Freund, der sich etwas später mit dem Namen Kai vorstellte, keinen besonders freundlichen Gesichtsausdruck zeigte. Fjodor bekam, nachdem er einen Unterschlupf gefunden hatte, Lust sich zu betrinken. „ Ich gebe ein paar Bier aus.“ schlug er vor. Gegenüber des Hauses befand sich eine Tankstelle. „Du kannst uns eine Palette (24 Dosen) mitbringen“, meinte Kai. „Leider hat der Supermarkt gerade zu gemacht“, fuhr er

fort. Der junge Russe war schockiert, als er an der Tankstelle für die kleine Palette 39 Mark bezahlen mußte. Inzwischen hatten drei kahlköpfig geschorene junge Männer das Appartement von Kai betreten. Sie waren begeistert, als Fjodor die Bierdosen brachte. Innerhalb einer Stunde waren sämtliche Dosen ausgetrunken. Bei Andropov vermischte sich das Gefühl der grenzenlosen Freiheit mit der Befürchtung, innerhalb weniger Tage sein „Startkapital“ von 250 Mark ausgeben zu müssen. „Finde ich eine Arbeit, so verdiene ich hier im reichen Deutschland am Tag locker 100 Mark“, hoffte Fjodor.

Inzwischen stellte sich das blasse Mädchen mit dem Namen Manuela vor. Sie nuckelte nur an der Bierdose, während die drei Kahlköpfe die erste 0,33 Literdose nahezu in einem Zug austranken. Manuela sagte: „ Ich steh nicht auf Alk. Hast du etwas zum Rauchen da?“ Mit Rauchen war Cannabis gemeint. Fjodor schüttelte den Kopf. Manuela bat ihn: „Kannst du mir

50 Mark leihen?“ Der junge Russe zögerte, Manuela schien ein ehrliches Gesicht zu haben. Wenn auch 50 Mark relativ viel Geld sind, Fjodor wollte Manuela für ihre Gastfreundschaft danken. „ Ich bin in einer halben Stunde wieder da “, sagte sie. Billi der größte der vier Männer machte den Vorschlag: „ Ich kann für 12 Mark eine Flasche Weinbrand besorgen, hast du noch ein bißchen Geld?“ Andropov zögerte abermals, 12 Mark für eine Flasche Schnaps das war O.K., er war in der Stimmung weiter zu trinken. Er blickte in seinen Geldbeutel, ein blauer Hundertmarkschein und ein brauner Fünfziger waren zu sehen. Die Augen der vier Männer begannen zu strahlen. Fjodor drückte Billi den braunen Schein in die Hand. Eine halbe Stunde später kehrte Billi mit 4 weiteren Männern sowie zwei Flaschen Schnaps und vier Litern Coca Cola zurück. Kai legte in seine Stereoanlage eine Hardrockkassette ein. Einige Minuten später kam auch Manuela zurück. Sie bastelte einen Joint, den sie herumgehen ließ. Andropov war vom Alkohol schon ziemlich benommen, weswegen er den Joint, ohne daran zu ziehen, weiterreichte. Er hatte nicht die Absicht eine „Drogenkarriere“ zu beginnen. Fjodors Vater benutzte das Wort Karriere in vielen Zusammenhängen, der alte Andropov hatte in der Tat Karriere gemacht, doch ist Karriere ein Lebensziel? Fjodor haßte dieses Wort, denn es hat immer etwas mit „sich hochdienen“ zu tun, Karriere, das ist ein langsam erreichter Erfolg. Fjodor wünschte zwar auch den Erfolg, aber nicht in Form einer „Karriere“. Er wünschte sich, mit seiner Graffitikunst innerhalb kurzer Zeit berühmt zu werden, sich selbst auszudrücken, anstatt sich hochzubuckeln, das war sein Wunsch.Die Party in diesem ungewöhnlichen Haus dauerte bis 2 Uhr nachts. Fjodor hatte einen Schlafsack dabei und rollte ihn auf dem Teppich aus. Er schlief schlecht, denn er hatte sehr viel Weinbrand konsumiert. Gegen 7 Uhr erwachte er mit einem Kater. Die Straßen waren fast menschenleer, überall standen Autowracks herum. Gegenüber des buntbemalten Hauses, in dem er die Nacht verbracht hatte, standen ausgediente Bauwägen, in denen langhaarige, altmodisch gekleidete Menschen campierten. Westberlin wurde früher als Insel der Freiheit bezeichnet. Fjodor hatte den Eindruck, diese Stadt würde aus vielen kleinen Inseln bestehen, aus Inseln der Unordnung, in einer sehr ordentlichen Stadt. Jedes Haus schien eine kleine Insel zu sein. Eine derartig große Vielzahl von Gegensätzen hatte er noch nie gesehen. Eine türkische Kebapstube neben dem Autohaus, ein Supermarkt neben der Pennerkneipe.

Der Geruch der Abgase der Zweitaktmotoren vermischte sich mit dem Duft von gebratenen Speisen. Es war eine Fülle von Eindrücken, die erst einmal verdaut werden mußten.

Unordnung und Schmutz waren ihm aus Rußland bekannt, er nahm sie jedoch nie wahr. Dreck schien zuhause etwas ganz Normales zu sein. Erst als er blitzende Feinkostgeschäfte neben Häusern, in deren Gängen meterhoch der Müll lag, sah, begann er über den Ordnungssinn der Deutschen nachzudenken. Den Deutschen wird immer ein besonderer Ordnungssinn nachgesagt, doch in Deutschland kann sich auch der Unordentliche, der Chaot, eine Insel schaffen, so hoffte er. Die Ordnung, die er hier vorfand war, war zumindest nicht mit Gehorsam, wie er ihn aus der Schule und von seinem Vater gewöhnt war, verbunden. Am folgenden Abend verließ Fjodor das Haus, in dem er die letzte Nacht verbracht hatte. Kai sprach: „ Es wird Zeit, daß du einen Abgang machst “, nachdem Fjodor es abgelehnt hatte, ihm und seiner Freundin Manuela weitere 50 Mark zu leihen. In diesem Haus werde ich sowieso nur ausgenommen, dachte sich Andropov, packte seinen Rucksack und stand alleine auf der Straße. Manuela empfahl ihm, sich an den CVJM zu wenden. Fjodor wanderte durch die Staßen, als ihm eine Jugendherberge auffiel. Er betrat sie, doch ohne internationalen Ausweis wurde er nicht aufgenommen. Er beschloß, die nächste Nacht in einem Billighotel, das immerhin 40 Mark für die Übernachtung mit Frühstück verlangte, zu verbringen. Er hatte das Bedürfnis alleine zu sein, deshalb zog er sich sein Zimmer zurück. Zuhause war er es gewohnt, daß die Menschen auf ihn zu gingen, sie ihm Arbeit beschafften und versuchten, ihn in die Gemeinschaft einzugliedern. „Irgendwie wird es schon weitergehen“, meinte Fjodor.

In dem kleinen Hotelzimmer fühlte er sich wohl, er hatte noch 100 Mark bei sich, er konnte also noch eine zweite Nacht in diesem Zimmer verbringen und sich für die verbleibenden 20 Mark Verpflegung beschaffen. So bewußt wie an jenem Tag hatte er seine Mahlzeiten noch nie zu sich genommen. Jeder Bissen und jeder Schluck kostete Geld. Nach der teuren Party der letzten Nacht, wollte Andropov keinen Menschen sehen. Gegen Mittag des übernächsten Tages verließ er das Hotel und begab sich zum Bahnhof Zoo. Er unterschied zwei Gruppen von Menschen, die einen hasteten nach dem nächsten Zug, während die andere kleinere Gruppe jede Menge Zeit zu haben schien, Zeit sich alleine oder in der Gruppe zu berauschen. Die Menschen, die sich in der Gruppe betranken machten einen glücklichen Eindruck, während in den glasigen Augen der Einsamen der Wunsch nach menschlicher Wärme zu lesen war. Fjodor versuchte Freunde zu finden. Er setzte sich zunächst auf ein Bänkchen in der Nähe des Bahnhofes und beobachtete die Menschen. Er beabsichtigte sich zu einer Gruppe zu gesellen, die ihm sympathisch war. Ein blonder junger Mann, der ein weiches Gesicht hatte und ziemlich dick war, umarmte gerade seinen schmächtigen Freund. Daneben standen zwei blasse, schwarz gekleidete etwa 16 jährige Mädchen. Der blonde Mann hatte eine Bierdose in der Hand. Ganz langsam schritt Fjodor auf die Gruppe zu. Der blonde junge Mann fragte ihn: „Was willst du denn von uns?“ Der junge Russe wurde nervös, er kehrte der Gruppe den Rücken zu. Etwa 50 Meter weiter standen ein paar Punks herum. Einer von ihnen hatte eine Flasche Vodka in der Hand. Fjodor ging wiederum langsam auf die Gruppe zu und fragte: „Darf ich einen Schluck nehmen?“ Er bekam die Antwort: „ Willst du schmarotzen!“ Durch diese Antwort geschockt, zog es sich zurück und nahm die S Bahn zum Stadtrand. Er spazierte etwa 2 Stunden durch den Grunewald, dabei begegneten ihm alle paar Minuten Menschen, die im Trainingsanzug durch den Wald trabten. Am Ufer des Wannsees setzte er lange auf ein Bänkchen und blickte auf den blauen See. Bisher hatte er noch nicht sehr viel Glück in dieser Stadt gehabt. Das Glück, dessen eigener Schmied man nach einem deutschen Sprichwort sein soll. Doch wo befindet sich diese Schmiede des Glücks ?

Die Menschen, denen er bisher begegnet war, waren Outsider, Menschen ohne Arbeit. Möglicherweise ist das Glück nur mit harter Arbeit zu schmieden, mit harter Arbeit ähnlich der Arbeit des heute fast ausgestorbenen Berufsbildes des Schmieds. Die nächste Nacht, es war Herbst und die Nächte waren kühl, verbrachte er frierend auf der Parkbank.

Melanie Semjonovna, 16 Jahre, ist drogenabhängig. Sie geht auf den Strich und lernt dort Grigori Morjakin kennen

Der Einstieg in die Welt der Drogen begann mit dreizehn. Melli versammelte sich mit den Mädchen ihres Heims im Sommer fast jeden Tag in einem kleinen Park. Die vierzehnjährige Maschenka hatte irgendwo Hasch besorgt und bastelte aus Zeitungspapier und dem Tabak einer billigen Zigarette der Marke Porti einen unförmigen fetten Joint. Der Joint wurde herumgereicht, Maschenka nahm selbst den ersten Zug und reichte ihn an Melli weiter. Melanie wollte zunächst nicht daran ziehen, der Gestank der das Zeitungspapier verursachte reizte ihre Bronchien, doch der seltsame Geruch des indischen Hanfs machte sie neugierig. Der Geruch des Joints erinnerte sie teilweise an den Geruch des Weihrauchs in der Kirche, andererseits an den Duft eines Lagerfeuers. Es war eine abenteuerliche Situation, in der sie sich befand. Sie hielt sich den Joint unter die Nase und atmete den seltsamen Duft ein.

Wenige Sekunden hatte sie ein Gefühl, als wäre sie ein Vogel. Sie fühlte sich leicht und glaubte zu schweben, es war ein angenehmes Gefühl. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an, eine halbe Stunde später spielten die Mädchen im Heim Karten. Melli konnte sich nicht mehr konzentrieren, sie machte beim an sich einfachen Kartenspiel Romme Fehler über Fehler, es war peinlich, so einfache Fehler zu machen. Schwindelgefühl setzte ein, dem wenige Minuten später ein Angstanfall folgte. Melli hatte Angst, sich blamiert zu haben und verzog sich in ihr Zimmer. Melli lebte mit jener Mascha, die den Joint gebastelt hatte, im Zweibettzimmer. Die beiden verstanden sich recht gut, Mascha war die Unternehmungslustige, während Melli die Stille Gehemmte war. War Melli traurig und schwermütig, berührte Mascha ihre Hand und umarmte sie, die beiden gingen oft Schulter und Schulter durch die Straßen der Stadt Samara, bei ihr spürte Melli Geborgenheit. Ladislav Kratochvil der Leiter des Kinderheims war ein Menschenkenner, nach einem kurzen Gespräch mit der schüchternen Melli wußte er, daß die lebenslustige Mascha gut zu ihr passen würde. Schon wenige Tage nach ihrer Einweisung ins Heim wurden die beiden gute Freundinnen. Mascha hatte in ihrem Leben nie richtige Drogenprobleme gehabt, sie war wohl neugierig darauf, neue Erfahrungen zu machen, doch harte Drogen hatte sie nie konsumiert. Mellis Erstkontakt mit der angeblichen Todesdroge Heroin geschah aus Liebeskummer. Er geschah aus Verzweifelung, sie hatte damals sogar daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Im Park, in dem sie sich in der Mädchenclique so oft aufgehalten hatte, lernte sie Anatoli Barischnikov, einen hübschen blonden jungen Mann kennen. Er trug immer Schuhe der Marke Nike und orginal Levis Jeans, sein Vater hatte ein kleines Geschäft mit dem er hervorragende Umsätze und Erträge machte. Die Dinge aus dem Westen, die Anatoli trug waren für Melli nicht einfach Schuhe und Klamotten, sie waren für sie Symbole der Freiheit und des Wohlstandes. Anatoli war damals 17 Jahre alt, er hatte ein nagelneues Moutainbike und lehnte lässig, den Fuß hochgestellt an der Parkbank. Bei Melli war es Liebe auf den ersten Blick, schon oft war sie am Geschäft von Anatolis Vaters vorbei gegangen und träumte von den teuren Dingen aus dem Westen, die für sie unerschwinglich waren. Sie verliebte sich in ihn hauptsächlich deswegen, weil er diese Dinge trug, aber auch weil er eine sanfte liebenswürdige Art hatte. Bevor sie ihn zum ersten Mal gesehen sah, hatte sie von ihm in der Lokalzeitung ein verschwommenes Photo gesehen. In der Zeitung wurde über den Erfolg des Geschäftes der Barischnikovs berichtet. Melli bewahrte diese Seite auf und hoffte diesen jungen Mann, der gar nicht weit, höchstens zwei Kilometer von ihrem Heim entfernt, wohnte, irgendwann persönlich kennen zu lernen.

Nadia dagegen lebte in der Realität, sie war fast immer fröhlich und gut gelaunt. Ihr Lächeln, das sie schon seit ihrer Geburt hatte, machte auch die anderen Menschen fröhlich. Nadia hatte nach der Schule, die sie als Jahrgangsbeste abschloß, eine Ausbildung in einem kleinen Kaufhaus begonnen. Das kleine Kaufhaus führte Haushaltsartikel und Schuhe. Nadia begrüßte alle Kunden mit ihrer ihr angeboren Herzlichkeit, sie übersah niemals die Kunden und versuchte die Wünsche ihrer Kunden so gut wie möglich zu erfüllen. Sie schloß ihre Ausbildung mit sehr gut ab und schon ein Jahr später wurde sie die Leiterin des kleinen Kaufhauses, nachdem der bisherige Leiter in Rente ging. Durch rechzeitiges Bestellen schaffte sie es, daß fast alle Waren auch zu Zeiten der zusammenbrechenden Sovietunion erhältlich waren. So gab es zum Beispiel auch immer Schuhe in den Größen 43 und 44.Galina Prokowna war sehr stolz auf Nadia. Auch sie war sehr extravertiert und lebte in der Realität. Sie hatte jedoch nicht den süßen Charme ihrer ältesten Tochter. Galina Prokovna haftete eine schulmeisterliche Strenge an.

Seit ein paar Jahre trug eine dicke Hornbrille mit der noch strenger aussah. Sie behandelte auch ihren Mann wie einen Schulbuben. In der Familie Prokov bestimmte Galina, wo es lang ging. Svetja haßte es mit ihrer großen Schwester verglichen zu werden.Es ging nicht nur um die Schulnoten, wenn Galina ihre jüngste Tochter ermahnte, sie bemängelte häufig auch Svetjas mangelnde Vitalität und Kontaktfähigkeit.

Galina war überzeugte Kommunistin, sie besuchte aber auch manchmal die Kirche und den Pfarrer, die materialistische Gesellschaftstheorie, des Marxismus sagte ihr aber auch nicht zu. Sie versuchte das Christentum und den Kommunismus zu vereinen.Seit sie seit ein paar Jahren ihre Meinung frei äußern durfte, sagte sie immer. Ich habe hier ein Buch mit den Schriften Lenins, aber das Wort Liebe kommt darin kein einziges mal vor. Ganz besonders gerne besprach sie mit ihren Schülern, Geschichten des großen Dichters Alexander Puschkin.Die Seele des Menschen, sie läßte sich nicht einfach durch These und Antithese der Materie erklären. Das Bewußtsein, das nach Marx maßgeblich durch ökonomische Verteilung der Güter geprägt werden soll, ist doch mehr. Galina nannte die Philosophie Lenins jetzt immer primitiv Materialismus, eine Aussage die sie sich vor zehn Jahren noch nicht in der Öffentlichkeit zu machen wagte. Im Hause der Prokows lag auch immer ein Buch über den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard herum. Kierkegaard und Dostojewski so meinte

Galina hätten, die Seele des Menschen tiefer erfaßt, als der kalte Machtmensch Lenin.Galina war allerdings nicht so schwermütig, wie es Kierkegaards Philosophie hätte vermuten lassen können. Wenn immer sie einem jungen Menschen ins Gesicht blicken konnte, erwachte in ihr die Begeisterung. alten Menschen war er sehr freundlich und nahm sich Zeit. Als er noch Marktleiter im staatlichen Geschäft war, kam es allerdings bei ihm häufig zu Versorgungsengpässen. Morjakin war kein Perfektionist, ihm war die Beziehung zu den Menschen wichtiger, als immer alles auf Lager zu haben.

Zu kommunistischen Zeiten handelte Morjakin nebenzu mit allerlei Gütern. So hatte er zum Beispiel fast immer alle Ersatzteile für den Lada in seiner Garage. Es gab auch in seiner

Heimatstadt keinen Menschen, der ihm das übel nahm. Selbst der Bürgermeister hatte ihm vor 4 Jahren einen Austauschvergaser abgekauft.

Morjakin war 49 Jahre alt , er war von kleiner dicklicher Statur und war wie Nadia fast immer gut gelaunt. Als er Nadia im Herbst 94 zum ersten mal sah, meinte Sie freute sich, wenn sie oberstes Ziel war, die Menschen für ein liebevolles und Zusammenleben fähig zu machen. Ganz besonders haßte sie Gewaltfilme, die jetzt überall zu sehen waren. Sie haßte auch die asiatischen Kampfsportarten, vor allem das Kickboxen.Sie meinte:“ es ist doch menschenunwürdig mit den Fäusten und Füßen aufeinander hinein zu treten, ihr sollt euch lieber umarmen. Galina fand es eine schöne Sitte, wenn die jungen Menschen Schulter an Schulter durch durch die Straßen zogen.

Vor ein paar Wochen wurde das staatliche Geschäft, in dem Nadia arbeitete privatisiert.

Der Kaufmann Morjakin, der bisher Leiter eines Kaufhauses der Stadt Pawlovsk war, hatte mehrere Geschäfte in der Umgebung aufgekauft. Morjakin war ein Meister im Umgang mit den Menschen. Er umarmte bei der Begrüßung, die Kunden, die er besonders gut kannte, er klopfte seinen Kunden auf die Schulter und reichte ihnen die Hand. Den Damen, egal ob sie

20 oder 60 Jahre alt waren, machte er Komplimente und auch zu den er gleich nach einer Viertelstunde: „ Was habe ich nur für ein Glück gehabt, eine so nette und intelligente Genossin zu haben.“ Morjakin und Nadia arbeiteten seit jenem Tag gut zusammen.

Nadia führte weiterhin das Geschäft in Krasnaja Sosna in eigener Verantwortung und Morjakin kam 2 mal in der Woche vorbei und besprach mit seiner Angestellten die wichtigsten. Dinge. Nadia hätte sich gerne auch mit Eigenkapital an dem Geschäft beteiligt, aber sie fand keinen Geldgeber. Ihre Eltern hatten kaum Ersparnisse.

Leider kam es bei Morjakin des öfteren vor, daß er bestimmte Waren, vor allem Schuhe in den gängigen Größen nicht liefern konnte. Er sagte immer, wenn die Kunden nachfragten:

„Ja, ja das haben wir schon bestellt.“ ber es dauerte oft Wochen, bis die Ware dann endlich lieferbar war. Nadia fühlte sich wohl in Krasnaja Sosna, sie war zweite Vorsitzende im Turnverein und hatte viele Freudinnen, mit denen sie sich in einem kleinen Lokal häufig traf.

Vor ihrer Hochzeit traf sie eine schwerwiegende Entscheidung, sie zog mit ihrem Ehemann nach Togliattigrad in eine Neubauwohnung. Sie wäre gerne in Krasnaja Sosna geblieben und hätte mit Morjakin eine Handelsgesellschaft gegründet. Sie ärgerte sich zwar manchmal über Morjakin, der alles auf die leichte Schulter nahm und des öfteren Lieferscheine und andere Papiere verschlampte. Ganz besonders ärgerte sie sich, als die Frau des Bürgermeisters, Frau Rulov zwei Paar Stiefel bestellte.Morjakin war damals auch im Geschäft, er sicherte der Frau Bürgermeisterin zu, die Stiefel bis morgen zu beschaffen. Frau Rulov hatte am folgenden Wochenende ein Richtfest für einen Gemeindebau und benötigte die Stiefel dringend. Als Frau Rulov, die Stiefel am Freitag abholen wollte, hatte Morjakin sie in seinem Geschäft in

Nadia meinte, wir müssen die Stiefel unbedingt heute noch holen.Die Fahrzeit zwischen den beiden Orten beträgt mit dem Auto fast 2 Stunden. Nadia sagte : „Der Kunde ist König, um einen Kunden zu halten müssen wir alles tun was in unserer Macht steht.“ Nadia setzte sich in Morjakins Wagen und fuhr nach Pavlovka über holperige Straßen. Als sie dort ankam, suchte sie das ganze Geschäft ab, aber sie konnte die Stiefel einfach nicht finden. Verzweifelt rief sie Morjakin an, auch er wußte nicht wo sich die Stiefel befinden könnten. Schließlich stellte sich heraus, daß Morjakins Mitarbeiter Iljuschin die Stiefel vor einer Stunde verkauft hatte.Diese kleine Episode war auch mit ein Grund, weshalb Nadia aus Morjakins Geschäft ausstieg. Ihr Schwiegervater meinte immer:“ Dieser Morjakin ist doch ein Chaot“ über den wirst du dich noch oft ärgern.

Nadia siedelte mit ihrem Ehemann nach Togliattigrad in eine moderne Neubauwohnung mit Zentralheizung über. Es war eine Art Verpflichtung mit ihrem Mann zusammen zu ziehen.

Bis vor ihrer Vermählung, lebte Petr unter der Woche alleine in der Neubauwohnung in der Automobilstadt Togliatti. Am Wochenende setzte sich Petr sofort in seinen Wagen und fuhr in seine Heimatstadt nach Krasnaja Sosna, wo Nadia schon sehensüchtig auf ihn wartete.