Adriana
Ich folge den Spuren meiner Kindheit, alleine. Alleine, dieses Wort habe ich während meiner zahlreichen Reisen schon in vielen Sprachen Europas gehört.
Solo, singur, tout seule, alone. Ich bin ohne Partner oder Freizeitgruppe, ohne Verein und ohne Eltern unterwegs. Und ich bin glücklich darüber, einmal solo zu sein. Keiner erwartet etwas von mir und das finde ich gut so.
Ich habe das Bedürfnis, die ehemaligen Urlaubsorte, die ich vor ungefähr 20 Jahren mit meinen Eltern besucht habe, noch einmal zu sehen. Meine Reise führt mich zunächst ins Südtiroler Unterland. Mehr oder weniger gerne habe ich in dieser Gegend die Berge mit meinen Eltern bestiegen.
Schroff und steil ragen die mit Kiefern und Moos bewachsenen Berge empor. Sie erinnern an die Zacken eines riesigen grauen Kamms. Ein Wasserfall stürzt einhundert Meter in die Tiefe. Die alte Eisenbrücke über die Schlucht ist gesperrt. Eine Kette mit Schild, das die Aufschrift Betreten verboten trägt, versperrt mir den Weg. Ich folge dem Pfad, der in die Schlucht hinunter führt. Vorsichtig steige ich die steinigen Stufen hinunter, denn ich trage alte Sandalen. Mannshohe Steinquader liegen im Bach. Ich sehe jetzt den Campingplatz, auf dem ich vor neunzehn Jahren mit meinen Eltern in einem großen Wohnwagen die Sommerferien verbracht habe. Ein großes Hotel wurde dort inzwischen errichtet. Unten im Tal liegt ein gepflegter Tennisplatz.
Ich schreite über den hölzernen Steg und vor meinen Augen erscheint ein wunderschönes Bild. Ich sehe ein junges Mädchen. Sie trägt einen einfarbig roten Bikini. Ihr blondes leicht gewelltes Haar fällt locker auf die Schultern. Ihre Augen glitzern hellblau wie die Adria im Sonnenlicht. Ihr Bauch ist flach, dennoch ist sie nicht übermäßig mager. Das Mädchen heißt Adriana, ein Name der gut zu ihr paßt, vor allem der blauen Augen wegen. Besonders faszinierte mich ihr süßes Lächeln, das sie stets auf den Lippen trug.
Wir spielten zusammen Tischtennis und warfen uns den Wasserball zu. Zugerne hätte ich ihre Gedanken gelesen, ihre kleine Hand berührt und ihr helles Haar gestreichelt.
Adriana war damals sechzehn, ich ein Jährchen jünger.
Wie gerne wäre ich damals ein wenig älter gewesen und mit ihr im komfortablen Auto meines Vaters spazieren gefahren.
Jahrelang habe ich nicht an Adriana gedacht, doch nun sehe ich sie so klar und deutlich wie ein Bild im Computer, das ich ewig lange nicht zum Öffnen angeklickt habe. Damals, vor 19 Jahren war ich in Adriana schrecklich verliebt, ich liebte sie sogar stärker als die meisten Mädchen und Frauen, zu denen ich in meinem nicht mehr ganz jungen Leben eine Beziehung gehabt hatte.
Und dennoch ist nichts zwischen Adriana und mir gewesen, objektiv nichts, nicht einmal ein Küßchen, höchstens ein milder zärtlicher Blick. In meiner Phantasie passierte dagegen um so mehr. Ich liebkoste ihren Körper, ihre Hände, ihren Mund, ihre kleine Brust. Ich sah mich mit Adriana auf der Via Appia, auf dem Petersplatz in Rom, auf dem Gran Paradiso und an den schönsten Stränden Italiens.
Seltsamerweise war ich in jedem Urlaub in ein anderes Mädchen verliebt. Dennoch hatte ich immer die Illusion in meinem Kopf, ich könnte dieses Mädchen bis an das Ende meiner Tage lieben. Im Urlaub hatte ich Zeit zum Träumen, denn es gab keine Formeln und Vokabeln zu lernen. Und so benutzte ich jede freie Minute für romantische Phantasien.
Ich frage mich, ist das normal? Flatterhaft, so ist mein Herz und blau ist die Farbe meiner Sehnsucht. Blau wie die Augen Adrianas, blau wie die Adria an einem hellen Sommertag, blau wie die Wolken auf dem Desktop meines Computers.
Bedächtig baue ich mein silbergraues Kuppelzelt auf. Wenig später
besuche ich das Sanitärgebäude, das ganz neu renoviert wurde. Ich blicke in den mit grauem Kunststoff umrahmten Spiegel, betrachte mein Gesicht. Ich komme mir alt vor an diesem Nachmittag. Ein paar graue Strähnen, leicht aufgequollene Tränensäcke und ein paar große Poren an der Wange, diese Merkmale weisen auf ein Alter um die 35. Doch in meinem Herzen bin ich ein Teenager geblieben. Man müßte noch mal zwanzig sein und so verliebt wie damals, der Text dieses uralten Schlagers, den meine Mutter früher manchmal gesungen hat, beißt sich in meinem Kopf wie ein Ohrwurm fest.
Wenn ich an Adriana denke, habe ich das selbe Gefühl in der Brust wie vor 19 Jahren. Die Hände sind feucht und das Herz klopft schneller als gewöhnlich. Früher habe ich in ihr die Frau, das große Mädchen gesehen. Heute sehe ich das Kind in ihr, wenn in meiner Phantasie ihr Bild erscheint. Ich muß Adriana wiedersehen, dies ist in diesem Moment mein Gedanke. Doch wie ist ihr Nachname. Er beginnt mit einem C.
Ich überlege ein paar Sekunden, kratze mich am Kopf. Genau, ihr Name lautet Carogi.
Mit diesem Namen hatte sich Adriana damals für das Tischtennisturnier am Campingplatz eingeschrieben. Der braune Alfa Romeo ihres Vaters hatte das Kennzeichen Mi (Milano). Mein Entschluß lautet: Morgen früh fahre ich nach Mailand, um Adriana ausfindig zu machen.
Ich gehe gleich nach Sonnenuntergang zu Bett, schlafe schlecht, wälze mich auf der unbequemen, viel zu weichen Luftmatratze hin und her. Bereits um sieben stehe ich auf, rolle den hellblauen Daunenschlafsack zusammen und breche mein Zelt ab.
Ungeduldig warte ich bis das Verwaltungsgebäude öffnet. Ich begleiche die Rechnung und mache mich auf die Reise.
Die Straßenschilder fliegen an mir vorüber. Alle zehn Kilometer ein Schild mit der Aufschrift Milano. Milano 190 Km, Milano 180 Km und so weiter. Milano ist ein leicht erreichbares Ziel. Aber werde ich Adriana finden?
Area Servicio Nogaredo, Pagenella, San Andrea. Modena.
In meinen Ohren klingen diese Wörter tausend Mal angenehmer und zärtlicher als zum Beispiel die deutschen Worte Odelzhausen, Holzkirchen oder Raubling.
Der Song Luciana in einer Bearbeitung von James Last tönt aus den Lautsprechern des Autoradios. James Last gehört zu meiner Jugend genauso wie der Urlaub in Norditalien, vertraut und dennoch geheimnisvoll.
Endlich erreiche ich die Ausfahrt Milano ovest.
Ein Kreisverkehr folgt dem anderen. Ich bin erschöpft, benötige dringend eine Pause.
Am linken Straßenrand befindet sich eine schattige Grünanlage mit roten Bänkchen.
Zum Glück finde ich auf Anhieb einen Parkplatz.
Mit gesenktem Kopf überlege ich mir eine Strategie, wie ich Adriana finden könnte.
Ich blicke in den Geldbeutel. Lediglich vier, der für Ortsgespräche benötigten 200 Lire Münzen sind zu erkennen. Wird das wohl reichen oder brauche ich eine Telefonkarte?
Mit zitternden Händen greife ich zum Telefonbuch.
Alfredo Carogi
Antonio Carogi
Emilia Carogi
……..
Etwa dreißig Carogis gibt es in Mailand, peile ich über den Daumen, nachdem ich das Telefonbuch aufgeschlagen hatte. Ich nehme zaghaft den Hörer ab und höre das Klimpern der fallenden 200 Lire Münze.
Ich beginne mit meiner Telefonaktion ganz oben bei Alfredo Carogi.
Haben Sie eine Verwandte, die Adriana heißt? frage ich in Deutsch.
Der Mann am anderen Ende der Leitung versteht mich nicht.
Ich versuche es mit ein paar Brocken italienisch.
Adriana, non conoscio, (kenne ich nicht) sagt eine krächzende Männerstimme.
Enttäuscht lege ich den Hörer auf.
Weiter geht es bei Antonio Carogi. Ich wiederhole meine Frage von vorhin. Die Antwort lautet:
Aber ja, sie ist meine Tochter. Warum?
Wir haben uns vor 19 Jahren am Camping Wasserfall in Ora gesehen.
Ich vernehme ein Lachen im Hintergrund. Aber ich kann mich nicht an Sie erinnern, spricht der fremde Mann am Telefon.
Das glaube ich schon, pflichte ich bei.
Möchten Sie Adriana wieder sehen? fragt der fremde Mann am Telefon.
Si, aber ja, stammle ich. Ich habe mein Ziel erreicht. Adriana lebt.
Ja, Adriana ist verheiratet, heißt jetzt Bertoluzzi. Das Wort verheiratet läßt mein Herz ein Stück tiefer sacken, einen Teil meiner Träume zerplatzen.
Ich gebe Ihnen Adresse und Telefonnummer, meint der freundliche Mann am anderen Ende der Leitung.
Ich greife in die Brusttasche und notiere mir die Adresse.
Adriana Bertoluzzi
Via Fausta 7.
Milano.
Ich balle die Faust, schüttle kurz darauf den Kopf und verlasse die Telefonzelle mit gemischten Gefühlen. Ich bewege mich zwischen Triumph und Nachdenklichkeit.
Der alte Mann, der vor der Zelle steht, wundert sich über mich, das entnehme ich seinem Gesicht. Ich eile zum Wagen, greife ins Handschuhfach und speichere die Adresse im Organizer. Gemächlich falte ich den Zettel mit Adrianas Adresse zusammen und lege ihn in der linken Konsole meines Autos ab.
Mein Entschluß lautet:
Ich werde Adriana nicht anrufen, sondern zunächst ihr Haus ausfindig machen.
Die Autofahrer hinter mir hupen. Italiener hupen ständig und das macht mich nervös. Ich stelle meinen Wagen in der nächsten Parklücke ab und fahre mit dem Bus in die Innenstadt.
Im Zentrum blicke ich mich suchend um und finde auf Anhieb eine riesige Buchhandlung.
Soll ich 15.000 Lire für einen Stadtplan ausgeben? Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich Adriana überhaupt besuchen soll. Doch den Stadtplan kann ich in jedem Fall brauchen, denke ich, um die Geldausgabe zu rationalisieren. Die Mailänder Innenstadt mit ihrem gigantischen Dom möchte ich schon seit Jahren besuchen, jedoch im Moment interessiert mich die gigantische Kathedrale wenig. Ich bin von dem Gedanken, Adriana zu sehen, erneut besessen. Auf der Busfahrt zurück zum Wagen studiere ich das Straßenverzeichnis.
Adrianas Haus befindet sich im Norden Mailands. Im Nebeldunst sind die Ausläufer der Alpen zu erkennen. Die via Fausta befindet sich in einer noblen Gegend.
Vor dem rosa verputzten Haus steht eine italienische Kombilimousine.
Zwei schwarzhaarige Kinder kreischen im Garten. Sie zanken sich um ein rostiges altes Dreirad. Ein kleiner etwa vierjähriger Junge packt sein Schwesterchen am langen, dunklen Haar. Ich bleibe im Wagen sitzen und greife zu einer Automobilzeitschrift, die auf dem rechten Vordersitz liegt, um mein Gesicht zu verbergen. Dieses Detektivspiel ist prickelnd aufregend. Ich verberge mein Gesicht, obwohl ich eigentlich keinen Grund dazu habe.
Plötzlich tritt eine junge blonde Frau auf die Terrasse. Sie schimpft unbekannte Worte. Vermutlich ist es Adriana, meine einst geliebte Adriana. Ihr Haar ist immer noch so blond wie damals vor zwanzig Jahren. Das Gesicht der jungen Frau kann ich nicht genau erkennen. Ich lege den ersten Gang ein und fahre etwa 500 Meter stadtauswärts. Ich weiß in diesem Moment nicht, was ich weiter tun soll. In meiner Brust breitet sich ein unangenehmer Druck aus, die Hände sind schweißnass.
Ich habe schrecklichen Durst, Zunge und Gaumen sind trocken wie Stroh. Mir ist nach kühlem Coca-Cola. An der nächsten Ecke befindet sich ein kleiner Laden. Alimentari steht in uralten verwitterten Buchstaben über der Eingangstür. Freundlich ertönt die Ladenschelle, doch kein Mensch ist zu sehen. Ich rufe laut: Buon Giorno!
Ich höre langsame Schritte. Ein uralter Mann mit schneeweißen Haaren und tiefen Furchen an der Stirn reicht mir die rote Dose, die ich auf dem Trottoir gierig öffne. Die schwarzbraune Zuckerbrühe spritzt mir ins Gesicht und verschmutzt den hellen Pullover. Ich fluche: Porca miseria! Mit einem weiß-blau gemusterten Taschentuch trockne ich die feuchte Stirn und lege den Pullover auf dem Rücksitz ab.
Ich stelle den Wagen vor Adrianas Haus ab und gehe die Straße auf und ab.
Soll ich einfach hingehen und klingeln? Wird sie mich für einen Hausierer oder Vertreter halten? Wird sie überhaupt öffnen?
Ich steige wieder in den Wagen und warte. Zehn Minuten werden zur Ewigkeit. Ich verlasse den Wagen und trete an den Maschendrahtzaun.
Ich fasse all meinen Mut und rufe: Scusi!
Scusi, wiederhole ich.
Ich schwitze, obwohl die Temperatur erträglich ist. Ich zupfe am durchgeschwitzten Poloshirt herum. Adriana tritt an den Zaun.
Kannst du dich an mich erinnern, damals am Camping Wasserfall? stammle ich.
Adriana schüttelt den Kopf. Sie kann sich nicht an mich erinnern. Schade.
Trotzdem bietet sie mir Cappuccino an. Sie öffnet die Tür und ich nehme auf der Terrasse Platz. Die Kinder zanken sich immer noch, diesmal um eine schwarze Babypuppe. Adriana droht mit erhobenem Zeigefinger. Die Kinder zanken sich weiter um die Puppe.
Ich vermeide es, Adriana ins Gesicht zu schauen. Ihr Gesicht ist um die Augenpartie faltig geworden. Akne narben und rote Flecken entstellen ihr Gesicht. Ihre Nase kommt mir länger und stärker gebogen als damals vor.
Es gibt einen Crash in meinem Kopf. Die vergessene und wieder aufgeflackerte Liebe bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Adrianas Nase hatte mich damals am Camping Wasserfall nicht gestört, mich nicht an meiner Liebe zu ihr gehindert. Ich nippe nervös an der Kaffeetasse. Ich blicke auf die Uhr, es ist kurz nach vier Uhr. Wir schweigen eine gute Minute. Krampfhaft suche ich nach einem Gesprächsthema. Ich erzähle in unbeholfenem Italienisch von meinem letzten Urlaub in Kroatien.
Roberto, Adrianas Ehemann, kommt um halb fünf nach Hause. Er trägt einen hellgrauen Anzug. Höflich verneigt er sich und schüttelt meine Hand. Was wäre, wenn ich Adriana geheiratet hätte? Wäre ich glücklich geworden?
Ich habe plötzlich das Bedürfnis zu fliehen. Ich muß weg. Diese Familie ist so normal wie Millionen andere in Europa. Angst vor der Nähe, vor der Enge beherrscht mein Wesen. Nein, ich bin nicht der Mensch für eine Familie. Ich muß weg von hier.
Nach einem kurzen Smalltalk mit Roberto verabschiede ich mich, setzte mich in den Wagen und brause davon in Richtung Neapel.
© Stefan Böck
Künstlername: Steve Frontera
Augsburg